Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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Neue Zürcher Zeitung Ressort Feuilleton, 14. Juli 2001, Nr.161, Seite 59
Wir Parasiten
Ein Aufklärungsbuch von Ulrich Enzensberger
Im Ursprung verrät sich die Wahrheit. Einst hiessen manche Volksvertreter «Parasiten». Es war dies im antiken Griechenland; und es waren die auf Zeit bestimmten «Mitesser», die so hiessen und ihrem Geheiss gemäss mit dem Priester und also dem Gotte das kultische Opfermahl einnahmen. Ein Parasit, ein neben, mit oder bei (pará) einem anderen Speisender (sitós), vertrat die politisch-religiöse Gemeinschaft, die im Kultus die Götter ehrt und sich selbst bestätigt. Bald nahmen die Mitesser - aber waren es dieselben? - am Tische auch weltlicher Herren Platz, um für Brosamen und manchmal mehr den Schmaus der Begüterten kurzweiliger zu machen. Hier und da schienen aus den komischen Kommensalen gar unterhaltsame Philosophen zu werden (keine rohen Kyniker allerdings). Die attische Komödie bezeugt es; ebenso dokumentiert sie die beginnende Konkurrenz des Parasiten mit anderen, mit weniger ehrbaren Gestalten des Welttheaters, unter ihnen der Schmeichler.
Erniedrigungen
Gegen ihr weiteres soziales Absinken mussten sich die weiland hoch Geachteten sodann - der Weltgeist wandert - in Rom wehren. Das römische Klientelwesen, die Patronage, gewährte ihnen zwar zunächst standesgemässen Unterschlupf. Doch geriet das Institut der Klientel mit der gesamten Republik in die Krise, wovon manche Stücke des Plautus handeln. Die Gönner hatten nicht mehr genug Geld, um sich geistreiche Tischgenossen zu halten. Diese drohten, Horaz hat den Ausdruck geprägt, zu Schnurrern zu verkommen. Doch rettete sie das Theater über die Zeiten, verbreitete sie sogar im Raum; nicht nur wurden Plautus und Terenz überall in Europa gespielt, es gingen im sechzehnten Jahrhundert, beginnend mit Ariost, zudem Hunderte neuer Stücke des Genres «Gelehrte Komödie» über die Bühnen, in denen der Parasit sein Auskommen hatte. - Aber ach, jedem Aufgang wohnt der Niedergang inne.
«Hätten wir gewusst, welche phantastischen Erniedrigungen uns erwarteten, wir hätten den Mut verloren.» - So spricht die Stimme, die den Leser durch Ulrich Enzensbergers «Parasiten» geleitet. «Wir» befinden uns auf Seite 78 eines wunderbaren, allerdings nicht ganz harmlosen «Sachbuches» (so der Untertitel), das aus beeindruckend vielen Quellen schöpft, aber keinen eigentlichen Vorläufer hat. Am ehesten noch wäre an Michel Serres' «Le Parasite» zu denken. Das vor zwei Jahrzehnten erschienene Buch des französischen Philosophen freilich bahnt sich zwischen Fabel und Wissenschaft den Weg zu einer universellen, Kultur wie Natur umfassenden Theorie - «Kein System ohne Parasit» -, während Enzensberger den Gang durch die Geschichte der kühnen Verallgemeinerung vorzieht. Auch er jedoch durchquert, wenn er dem Wort und seinem Gebrauch folgt, soziale ebenso wie natürliche Gefilde; und er kennt eine Richtung. Gehen wir - «wir» - also weiter.
Eine Erniedrigung, die den Parasiten bevorstand, hatte sich bereits mit dem durch Paulus mobilisierten Christentum und dessen Adelung der Arbeit angekündigt. Im Zweiten Brief an die Thessalonicher findet sich die Jesu Bergpredigt frontal widersprechende ordnungspolitische Direktive, wonach «auch» nicht essen solle, wer nicht arbeiten wolle. Das Sendschreiben entstand um 120, zu jener Zeit, in der Lukian von Samosata geboren wurde, der den Parasiten eines ihrer schönsten Denkmäler gesetzt hat, ein Streitgespräch im Stile sokratischer Dialoge. Als Christoph Martin Wieland es unter dem Titel «Der Parasit oder Beweis, dass Schmarotzen eine Kunst sey» übersetzte, 1788/89, war die Luft, auch die des Theaters, merklich dünner geworden für «arbeitsscheue» Lebenskünstler. Nicht nur war das rigide Arbeitsethos im Protestantismus zur Herrschaft gelangt. Es war auch die Verleumdung schon in die Welt gesetzt worden, die nach Enzensbergers Wir-Erzähler «die Katastrophe auslöste».
Sir Thomas Browne hatte 1646, eigentümlicherweise in seinem klassisch gewordenen Werk über populäre Irrtümer, «Pseudodoxia Epidemica», behauptet, die Mistel entstehe nicht aus Samen, sondern aus «überflüssigem Saft» der Bäume, die sie tragen (was nicht stimmt). Und er hatte sie, weil sie auf Kosten anderer lebe, eine «parasitische Pflanze» genannt. Der sprachliche Erreger, könnte man sagen, war vom Menschen auf die Pflanze übergesprungen. Er verschonte auch das Tier nicht; der Eingeweidewurm wurde alsbald befallen, ihm folgten Floh, Laus, Krätzmilbe, Sackkrebs und viele andere.
Mit den Seuchen des 19. Jahrhunderts grassierte auch das Wort «parasitisch» mehr und mehr. Die Epidemie erfasste nicht nur Botanik und Zoologie, sie schlug sich zudem im Vokabular der verschiedensten Sozialhygieniker nieder, die in der Gesellschaft so viel wie einen zu rodenden Urwald sahen. Soll heissen: Nachdem aus den Parasiten schmarotzende Pflanzen und Tiere von fragwürdiger Herkunft geworden waren, mutierten sie wieder - eine Art Pseudomorphose - zu Menschen. Aus der Sicht der Betroffenen haftete dem naturgemäss etwas Verzweifeltes an: «Um wieder zu Menschen zu werden, spielten wir jede angebotene Rolle: Polizeidienst, Proletarier, Vagabund, Bettelkind, Lazzarone, Sträfling, lebenslänglicher Häftling, sterilisierter Alkoholiker und Schwachsinniger.»
Auch und gerade die sozialistische Bewegung bot, wie die Erzählstimme hinzufügt, keine attraktiveren Rollen an. Zunächst wurde da und dort die Bourgeoisie des Sozialschmarotzertums und des Sozialvampirismus bezichtigt. Als dann die Verhältnisse umgestürzt waren und die Russische Sozialistische Föderative Räterepublik sich 1918 eine Verfassung gab, wurde der oben zitierte paulinisch-christliche Ukas in zeitgemässen Klartext übersetzt. Paragraph achtzehn der Konstitution adressierte sich nicht nur an die bürgerliche Klasse: «Wer nicht arbeitet, hat kein Daseinsrecht.» 1961 erliess, um die Geschichte zu raffen, der Oberste Sowjet das «Gesetz zur Verschärfung des Kampfes gegen die gesellschaftsfeindlichen parasitären Elemente». Inzwischen hatte, auch im nationalsozialistischen Deutschland, der (wortgeschichtlich jüngere) «Schädling» den Parasiten abgelöst. Wohl deswegen, so vermuten «wir», weil der Schädling eindeutig von aussen angreift.
Das Phantasma des «gesunden Volkskörpers» setzte die Mechanismen der Ausrottung in Gang. Schon Ende des 18. Jahrhunderts, es darf nicht verschwiegen werden, hatte Herder (und nicht nur er) die Juden zu einer «parasitischen Pflanze auf den Stämmen anderer Nationen» erklärt - eine abstruse Verdrehung der Tatsache übrigens, dass die Christenheit dem Judentum entwachsen ist. Der Leser bemerkt mit einer gewissen Erleichterung: Wo jedes Reden im Namen der Opfer anmassend und obszön wäre, vermeidet der Text das «Wir».
Wiederkehr
Nach der Shoah, nach dem Zweiten Weltkrieg schien die Neigung, das Etikett «Parasit» zu verwenden, zunächst nicht sehr gross zu sein, jedenfalls im «Westen» nicht. Doch der Wohlfahrtsstaat mit seiner vermeintlichen «sozialen Hängematte» lockte die politisch praktizierenden Soziobiologen wieder aus der Reserve, in die sie bis heute sich nicht wieder zurückgezogen haben. Auf Belege kann man hier vornehm verzichten.
Den «ultimativen» Höhepunkt seiner Karriere verdankt der Parasit indes nicht den Mächten der Wirtschaft, sondern - wie könnte es anders sein - denen der Molekularbiologie. Bereits vor zwei Jahrzehnten wartete die Zeitschrift «Nature» mit einer Entdeckung auf, mitgeteilt durch L. E. Orgel und Francis H. C. Crick (der mit James Watson 1953 die DNA-Doppelhelix modelliert hatte): «Selfish DNA: the Ultimate Parasite». Die «selbstsüchtige» DNA, die der ultimative Parasit sein sollte, hatte bereits einige Jahre zuvor Richard Dawkins, der sendungsbewusste Neo-Darwinist, in die Welt gesetzt. Orgel und Crick zielten allerdings nicht auf die Gesamtheit der doppelt gewundenen Desoxyribonukleinsäure, ihnen ging es um die Teile, die kein Protein produzieren, die - um es frank und frei zu sagen - nicht arbeiten. Sie nannten sie folgerichtig parasitär und überschüssig, kurz: junk.
Das Irritierende an diesem «Müll»: Es gibt von ihm mehr als vom Nichtmüll. Von den etwa einhundertachtzig Zentimetern, die ein DNA-Strang misst, entfallen nicht mehr als knapp dreissig auf die arbeitsfreudigen Gene. Übrig bleibt ein faulenzender Spulwurm von eindrücklicher Länge. Der ist mit der Sequenzierung des «menschlichen» Genoms ans Tageslicht der Wissenschaft gekommen und entsprechend im Editorial einer der diesjährigen Februarnummern von «Nature» kommentiert worden: «Endlich lässt sich ermessen, in welchem Ausmass parasitische DNA unser Genom kolonisiert hat.» - Für den Wir-Erzähler des Buches eine späte Genugtuung: «Wir sind Menschen wie du und ich.» Für den Leser eine Erleichterung: Wir sind Parasiten wie du und die anderen.
Uwe Justus Wenzel
Ulrich Enzensberger: Parasiten. Ein Sachbuch. Eichborn-Verlag (Die Andere Bibliothek, hrsg. von Hans Magnus Enzensberger), Frankfurt am Main 2001. 303 S., Fr. 54.-.
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