Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Neue Zürcher Zeitung Ressort Literatur und Kunst, 28. April 2001, Nr.98, Seite 83

 

Das Leben des Künstlers - von der Antike bis zur Gegenwart

Zur Topologie von Kunst

Von Beat Wyss

Die vorliegenden Zeilen sind Extrakt eines ungeschriebenen Buchs. Darin träumt der Autor von der Möglichkeit, aus der Überlieferung antiker Anekdotik, aus den Viten Vasaris, Carel van Manders, Joachim von Sandrarts, aus den Künstlerromanen des 19. Jahrhunderts von Wackenroder bis Zola das Robotbild des Künstlers zu gewinnen, in dem sich noch die heutigen Popstars - «for ever young» - wiedererkennen.

A. EIN CURRICULUM IN KÜRZE

Die gelehrsame Sammlung der Quellen zur Künstlerlegende geht ins erste Viertel des letzten Jahrhunderts zurück: auf die Werke Julius von Schlossers, von Ernst Kris und Otto Kurz. Gegen deren topologischen Ansatz setzen eine Generation später Rudolf und Margot Wittkower den Versuch, das Künstlertum nicht mit Anekdotik, sondern mit biographischen Dokumenten zu entfalten. Da die Autoren aber den Anspruch erheben, aus historischen Quellen ein allgemeines Psychogramm des Künstlers zu erstellen, schleicht sich das Topische unvermerkt wieder in die sorgfältig zusammengetragenen Tatsachen ein. Der Versuch, den Künstler zu fassen als Schöpferpersönlichkeit mit bestimmten Charaktermerkmalen, läuft, wie etwa auch bei Eckhart Neumann, Gefahr, das moderne Künstlerbild als anthropologische Gegebenheit bis auf die Antike zurückzuspiegeln. Die hier angewandte Methode folgt dem diskursanalytischen Ansatz von Hayden White, den Catherine Soussloff auf die Konstruktion des Künstlerbilds übertragen hat. Was bisher noch nicht geleistet wurde, ist eine historische Erklärung für das Auftreten, aber auch das Verschwinden der Künstlerlegende.

Anekdoten von Künstlern sind über Duris, den Tyrannen von Samos (um 300 v. Chr.), Schüler von Theophrast, bruchstückhaft überliefert. Gaius Plinius Secundus der Ältere übernimmt einige davon in seinen Aufzeichnungen über Künstler in den «Naturalis historiae», die den Grundstock der Künstlerlegenden ausmachen. Die Anekdoten sagen weniger aus über die tatsächliche Persönlichkeit des Künstlers als über dessen Rolle innerhalb der Gesellschaft. Allgemein charakterisieren sie diesen als Verkörperung des Menschenwitzes. Die Künstlerlegenden lassen gewisse Stereotypen erkennen, die, in abgewandelter Form sich wiederholend, einzelnen Künstlerindividuen zugeschrieben werden. Ihre Überlieferung erlebt drei geschichtliche Höhepunkte: im späten Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit, im Humanismus des 15. und frühen 16. Jahrhunderts sowie zwischen Romantik und klassischer Moderne. Ihre jeweilige Aktualität gewinnen sie, wenn die gesellschaftliche Stellung des Künstlers eine Veränderung erfährt. In der Antike beweist der geistreiche Künstler durch seinen Witz, dass sein Können die bloss technische Fertigkeit übersteigt. Der Künstler des Humanismus will, in Abgrenzung vom zünftigen Kunsthandwerker, sich dem fürstlichen Hof gegenüber würdig erweisen als gottähnlicher Schöpfer, der von Natur aus mit Talent begabt ist. Der moderne Künstler wirkt an der Legende vom verkannten Genie, das gegen ein banausisches Publikum im Zeitalter von Kapitalismus und Industrie an seinem Nachruhm arbeitet.

Die antiken Historiker und Philosophen nehmen von der bildenden Kunst kaum Notiz. Aristoteles und Platon weisen ihr einen Rang unterhalb von Dichtung und Musik an. Malerei und Skulptur ist keine Muse zugeordnet, denn sie entspringen handwerklicher Fertigkeit, die in einer Gesellschaft von Sklavenhaltern gering geachtet wird. Im Hellenismus beginnt sich die Einstellung zu ändern. Plinius berichtet, es sei dem Einfluss von Pamphilos, dem Lehrer des Apelles, zu verdanken gewesen, dass Malerei zu einem Lehrfach der Freien wurde. Dass dabei ihre Ausübung durch Sklaven verboten worden sei, trifft zwar nicht zu; doch auf dieser Behauptung des Plinius fusst die humanistische Ansicht vom angeblich hohen Rang der bildenden Künstler in der Antike. Die Anekdoten, wonach der Künstler für seine Arbeit kein Geld nimmt, soll Unabhängigkeit demonstrieren von der Lohnarbeit der «bánausoi», der Handwerker. Polygnot malt den Tempel von Delphi und die Poikile von Athen umsonst. Zeuxis verteilt seine Werke mit der Bemerkung, sie seien unbezahlbar.

Wenn schriftlich belegte Nachrichten über den Künstler im Mittelalter fehlen, bedeutet das nicht, sein Werk sei gering geschätzt worden. Inschriften seit dem 11. Jahrhundert zeugen vom Stolz über die vollendete Arbeit. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts erfährt jedoch nicht nur das Werk, sondern auch die Person des Künstlers wieder zunehmende Beachtung. Es entwickelt sich ein Wettbewerb unter den Höfen, möglichst berühmte Meister zu halten, die durch Privilegien, Pensionen und Adelstitel umworben werden. Wie schon in der Antike begleiten die Schriftsteller den sozialen Aufstieg der Künstler nur zögernd. Die Novellen des 14. Jahrhunderts, Giovanni Boccaccios und Franco Sacchettis, berichten vom drolligen und kauzigen Wesen des Künstlers. «Verflucht sei, wer ein Weibsbild an einen Maler verheiratet, an euch, die ihr alle Phantasten seid und launisch und immer zu Gang, euch zu betrinken», beschimpft, zur eigenen Rechtfertigung, die Malersgattin ihren Mino, nachdem sie diesen soeben mit einem andern, normalen Mann gehörnt hat.

Drei Verse in Dantes «Göttlicher Komödie» tragen dazu bei, die bildenden Künstler auf die Höhe der Dichtung zu heben:

«Es glaubte Cimabue, in der Malerei Das Feld zu halten, und jetzt hat Giotto den Zuspruch So, dass der Ruhm des andern sich verdunkelt.»

Aus Dante-Kommentaren zu dieser Terzine entwickeln sich im 15. Jahrhundert die ersten selbständigen Künstlerviten. Die Lebensbeschreibungen Giorgio Vasaris, 1550 erstmals publiziert, begründen die Gattung der Künstlermonographie.

B. DIE HÄUFIGSTEN STEREOTYPEN

1. Auffälliges Verhalten:

Zeuxis trägt zu Olympia seinen Namen in goldenen Buchstaben auf der Kleidung. Parrhasios nennt sich selber «habrodíaiton», einen stutzerhaften Bonvivant. Giovannantonio von Vercelli erhält wegen notorischen Umgangs mit Lustknaben den Spitznamen «Sodoma», dem wegen Schabernacks bei der Ausmalung im Kloster von Monte Oliveto noch der Titel «Mattaccio», Erznarr, dazugefügt wird.

2. Witz und Schlagfertigkeit:

Der Künstler bewährt sich in rhetorischen und artistischen Wettkämpfen mit seinesgleichen und dem Publikum. Berühmt sind der Linienwettkampf zwischen Apelles und Protogenes in Rhodos sowie der Täuschungswettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios. In der Neuzeit setzt sich der Wettstreitgedanke fort in der Paragone-Literatur über den Anspruch um Vorrang unter den Gattungen Malerei und Skulptur. Zahllos sind die Zeugnisse von der Schlagfertigkeit des Künstlers. Apelles korrigiert eine gemalte Sandale, deren Darstellung ein Schuster bemängelt hat. Als dieser nun auch noch einen Fehler bei einem Bein bemerkt haben will, bekommt er zur Antwort, was noch heute geflügeltes Wort ist: Schuster, bleib bei deinem Leisten!

3. Freund der Fürsten:

Die Ebenbürtigkeit mit den Herrschenden führen die Humanisten auf einen Ausspruch von Parrhasios zurück, der sich «Fürst der Künste» nennt. Apelles geniesst die Hochachtung von König Alexander, der ihn in der Werkstatt besucht und ihm Pankaspe, seine liebste Konkubine, schenkt. Kaiser Karl V. fühlt sich als «Alexander» gegenüber Tizian, seinem «Apelles», dem er nach Carlo Ridolfi den entfallenen Pinsel aufhebt. Nach Carel van Mander ist die Mauer, an der Albrecht Dürer in Gegenwart Maximilians I. eine Zeichnung anbringen soll, zu hoch, worauf der Kaiser einem dabeistehenden Edelmann befiehlt, sich auf die Erde zu legen, damit der Künstler ihn als Schemel benutzen könne.

Bild

Jean-Auguste Ingres:
Leonardo stirbt in den Armen von König François I.
Gemälde 1818 (Bild pd)

4. Der «Andere Gott»:

Göttliche Eingebung durch die Musen bleibt während der Antike dem Dichter vorbehalten; erst im Humanismus wird sie auch dem bildenden Künstler zuteil. Marsilio Ficino übernahm Platons Begriff des «enthousiasmós», des göttlich inspirierten Wahnsinns, ein Gedanke, den Giordano Bruno im Sinne eines neuzeitlichen Geniegedankens weiterentwickelt. Die göttliche Quelle der Schöpfungskraft wird begründet mit der Auffassung, der Künstler selbst sei «alter deus», ein «Anderer Gott». Der grosse Künstler hat keine Lehrer, die sein Talent gefördert hätten. Der Maler Eupomp sagt, es sei die Natur selbst, die ihn zur Nachahmung angeregt habe. Die Naturwüchsigkeit der Begabung betont Vasari einleitend in vielen seiner Biographien.

5. Kindheit und Entdeckung:

Es gibt keine antiken Anekdoten zur Kindheit des Künstlers. Der Topos bildet sich zusammen mit der neuzeitlichen Auffassung vom Künstler als dem «Anderen Gott». Dabei beerben die neuzeitlichen Künstlerlegenden den antiken Mythos von Göttern und Helden wie Zeus, Dionysos, Herkules, Romulus und Remus, die, von den Eltern ausgesetzt, auf dem Land aufwachsen, betreut von Nymphen, genährt von tierischen Ammen: Ziegen, Wölfen oder Bären. Ähnlich wächst der Künstler unter ärmlichen Verhältnissen als Hirtenknabe auf wie Giotto, Domenico Beccafumi, Andrea Sansovino, Andrea del Castagno, Francisco de Goya. In seiner Gottähnlichkeit gleicht der Künstlerknabe dem Christkind, das in einem Stall geboren worden ist. Wie der zwölfjährige Jesus im Tempel muss der Künstler seine geistige Sendung durchsetzen gegen das Unverständnis der leiblichen Eltern. Nach Ascanio Condivi wird der Knabe Michelangelo von seinem Vater geschlagen aus Hass gegen den Künstlerberuf. Aber der von Natur mit Talent Begabte setzt sich, unermüdlich übend, gegen alle Schwierigkeiten durch.

6. Weltfremdheit:

Dass der Künstler über seiner Arbeit die Alltagswelt vergisst, macht ihn dem Philosophen ähnlich: Archimedes, der aus Freude über die Entdeckung des spezifischen Gewichts nackt aus dem Bad steigt und durch Syrakus rennt; Diogenes und Sokrates, die ihr Äusseres über dem Philosophieren ebenso vernachlässigen; Thales von Milet, der beim Beobachten der Sterne in den Brunnen fällt und darob von einer Magd verlacht wird. Der Maler Protogenes, der zu Rhodos in seinem Gartenhaus vor der Stadtmauer lebt, malt ungerührt weiter, während die Stadt kriegerisch erstürmt wird. Paolo Ucello, unbekümmert über gewinnbringende Aufträge, die seine Armut hätten lindern können, brütet nächtelang über Perspektivregeln, während seine Frau ihn vergeblich zu Bett ruft. Neben der weltfremden Schaffenswut gibt es auch den umgekehrten Fall: Pontormo bleibt tagelang untätig. Sein Wohn- und Arbeitsraum im ersten Stock ist über eine Leiter zugänglich, die der Künstler hinter sich hochzieht, um vor ungebetenen Gästen sicher zu sein.

7. Melancholie:

Aristoteles stellt fest, dass alle in Philosophie, Politik, Dichtung und bildender Kunst hervorragenden Leute melancholisch seien. Während die Theologen des Mittelalters die Melancholie dem Laster der Trägheit gleichsetzen, wird das gallig schwarze Temperament von Marsilio Ficino wieder gewürdigt. Der Melancholiker ist geboren unter dem Stern Saturn. Sein Charakter entspricht dem des Hundes: eines bekümmerten Grüblers, eines treuen Schnüfflers nach Wahrheit. Dass der Intellektuelle und Künstler ein Melancholiker sei, entwickelt sich zum Gemeinplatz.

C. DIE GRENZEN DER LEGENDE

Im 17. Jahrhundert kommen die Anekdoten aus der Mode. Der Berufsstand des Künstlers passt sich der Etikette des Hofs an. Parallel zur Akademisierung der Kunst steht der Rationalismus in der Philosophie, wie er in René Descartes' «Discours de la méthode» (1637) zugrunde gelegt wird. Im Zentrum der barocken Kunstliteratur stehen die Regel und der Stil, nicht die Grillen des Künstlers. In Verhalten und Kleidung weist sich dieser als gebildeter Herr mit guten Umgangsformen aus. Cavaliere d'Arpino (1568 bis 1640), ein Gründungsmitglied der Römer Akademie, erscheint in der Öffentlichkeit gegürtet mit dem Degen und hoch zu Ross. Ein Hang zum parvenühaften Gebaren setzt sich über das Dandytum des 19. Jahrhunderts bis heute fort. Das Ideal des Hofmanns vollendet sich in Peter Paul Rubens: Der Künstler, Diplomat und vielsprachig Gebildete ist zweimal glücklich verheiratet, gut aussehend und weltmännisch im Umgang mit Königen und Gelehrten - ein «uomo universale».

Die Übersetzung der Viten Vasaris im frühen 19. Jahrhundert ins Deutsche, Französische und später auch ins Englische fällt zusammen mit der Wiedergeburt des Künstlers als Sonderling. Die Dichter entdecken die Figur als Helden für den Künstlerroman. Die neuzeitliche Melancholie verwandelt sich in das Fernweh der deutschen Romantiker, in den «ennui» der Pariser Dichter um Baudelaire und in die gespreizte Attitüde englischer Dandys. Der alte Topos des weltfremden Grüblers wird neu aufgeladen unter den Bedingungen des Industriezeitalters. Einmal mehr bieten die Künstlerlegenden Bewältigungsmodi in einer Epoche gesellschaftlichen Umbruchs. Der Künstler, aus dem Bann, aber auch dem Schutz von Zunft und Hof entlassen, muss sich auf dem freien Markt bewähren. Das verkannte Genie setzt sich gegen den Neid der Kollegen und das Banausentum der Zeitgenossen durch. Ein antikes Vorläufermotiv ist die Anekdote von der Verleumdung des Apelles beim König Ptolemaios durch den Rivalen Antiphilus. Zum Prototypen des verkannten Genies wird im Rückblick Rembrandt als einer, dessen Fähigkeit von den Zeitgenossen angeblich nicht gebührend geschätzt wurde und dessen Werk sich erst im Nachruhm entfaltet hat.

Das Leiden an der herrschenden Welt ist Bedingung der Kreativität. Friedrich Nietzsches «Ecce Homo» (1908) spielt auf den gegeisselten und verspotteten Christus der Passion an. William Blake, Paul Gauguin, Marc Chagall, James Ensor, Salvador Dalí und Joseph Beuys inszenieren sich als «Schmerzensmänner», die um ihrer exponierten Kunst willen das Kreuz auf sich nehmen. Zwar lässt sich auch hier ein Topos bis ins Spätmittelalter zurückverfolgen: So beeinflusst etwa Thomas a Kempis' Schrift der «Nachfolge Christi» die religiöse Motivation der Maler im 15. Jahrhundert. In der Moderne jedoch wird mystische Selbstaufgabe zum artistischen Rollenspiel. Der Avantgardist ist durchdrungen von der messianischen Sendung, die Menschheit hinter sich zu scharen, um die Welt zu verändern. Der moderne Künstler als leidender Heilsbringer bekommt jetzt auch antike Titanen und Halbgötter zum Vorbild: Prometheus, der den Menschen das Feuer bringt und dafür von Zeus an den Kaukasus gekettet wird; Orpheus, der in die Unterwelt hinabsteigt, um vor Hades die Geliebte, Euridike, auszulösen.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verblasst das topische Künstlerbild. In den sechziger Jahren macht die Rede vom «Tod des Autors» die Runde. Der Poststrukturalismus setzt an die Stelle des Künstlers den Betrachter, der das Bild macht. Michel Foucault sieht im Autor die Schnittstelle einer Funktion, welche die Existenz, die Operation und die Zirkulation von Diskursen in der Gesellschaft über die Maske einer Person anschaulich macht.

Die durch Jahrhunderte überlieferte Figur des Künstlers als Mann trägt zur Schwierigkeit bei, sie weiblich zu besetzen, da nach der Tradition der Frau die Rolle der Muse zugedacht ist. Die Kunstgeschichte bleibt humanistisch in ihrem Festhalten an der Künstlermonographie. Jede Verknüpfung von Leben und Werk ordnet die Fakten unwillkürlich nach dem Muster der Künstlerlegenden; sie liefern das Konstruktionsprinzip dafür, was wir gewöhnlich «den Autor» nennen, jene Figur, in der wir die Ursache genialer Einfälle und von Kunstfertigkeit sehen.

 

 


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