Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Ressort Zürich und Region, 27. April 2001, Nr.97, Seite 51

 

Das Schweigen der Lepontier

Blick auf ein vergessenes Alpenvolk im Landesmuseum

Im ersten vorchristlichen Jahrtausend im Gebiet des heutigen Tessins ansässig, sind die Lepontier heute historisch kaum mehr recht fassbar. Anhand von Ausgrabungsfunden, die grossenteils aus der eigenen Sammlung stammen, gibt das Landesmuseum nun einen Überblick über das Wenige, was man über dieses antike Alpenvolk weiss.

rib. Im Geschichtsbild der Schweizerinnen und Schweizer sind die Lepontier heute so gut wie inexistent. Höchstens für Spezialisten sind die Spuren der Volksbezeichnung in Ortsnamen - etwa Val Leventina - erkennbar, und selbst historisch Interessierte kennen kaum mehr als den Namen. Auch in antiken Schriftquellen sind Nachrichten zu diesem Volk, das im 1. Jahrtausend v. Chr. im Gebiet des heutigen Tessins, in Teilen Graubündens und in Oberitalien ansässig war, nur spärlich. Und wenn es erwähnt wird, sind die Angaben selten ergiebig. Als Nachfahren der Taurisker bezeichnet sie der ältere Cato in der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. - kein hilfreicher Hinweis, da über die Taurisker im Ganzen nicht viel mehr bekannt ist. Und aus den rund hundert Jahre jüngeren Angaben bei Cäsar und beim Geographen Strabo lässt sich kaum mehr gewinnen als die ungefähre Ausdehnung des Siedlungsbereichs.

Intensive Kontakte zur Mittelmeerwelt

Doch obschon sich die römischen Autoren nur wenig für die Lepontier interessierten: Archäologisch sind sie recht gut fassbar. Die bisher ältesten Funde, die mit ihnen in Verbindung gebracht werden können, sind auf die Zeit um 700 v. Chr. zu datieren. Von da an sind sie kontinuierlich bezeugt, bis sie nach der Unterwerfung der Alpenvölker durch Augustus Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr. als eigenständiges Volk nicht mehr nachzuweisen sind. Die seit dem 19. Jahrhundert im Tessin und Misox entdeckten Fundstücke dokumentieren eine überaus reiche Kultur, deren Bronze-, Eisen- und Silberarbeiten eine souveräne Beherrschung entwickelter Handwerkstechniken zeigen und deren Keramik intensive Kontakte zur antiken Mittelmeerwelt belegt.

Die Sonderausstellung «Zwischen Kelten und Etruskern. Die Lepontier - Grabschätze eines mythischen Alpenvolkes», welche ab Samstag im Landesmuseum zu sehen ist, gibt einen Überblick über den gegenwärtigen Wissensstand. Es mag verwundern, dass mit dieser Schau, die auf einer 2000 im Castello Visconteo-Casorella in Locarno gezeigten beruht, das Thema erstmals im deutschsprachigen Raum umfassend aufgearbeitet wird. Schliesslich stammt ein Grossteil der Exponate aus der Sammlung des Landesmuseums und gehört dort zum Kernbestand, der schon vor der Eröffnung 1898 nach Zürich gekommen war. Trotz anfänglicher Euphorie angesichts der Funde flaute allerdings das Interesse an den Lepontiern in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ab, und erst in letzter Zeit hat sich die Archäologie wieder intensiv mit ihnen befasst und das Bild ihrer Kultur da und dort etwas aufgehellt.

Kelten, Etrusker und andere Völker

Da der weitaus grösste Teil der Funde aus Gräbern stammt, ist es beispielsweise sehr schwierig, sich ein Bild von Siedlungsformen zu machen, die das Gebiet der Lepontier prägten; über religiöse Vorstellungen und rituelle Praktiken kann wenig Konkretes gesagt werden, weil bis heute keine Heiligtümer oder Ritualplätze bekannt sind; Sozialstrukturen zeichnen sich im Spiegel der Grabbeigaben höchstens ansatzweise ab. Prunkhelme und Kriegerdarstellungen deuten an, dass das Kriegshandwerk im Selbstverständnis eines Teils der Bevölkerung zentral war; allerdings scheinen die Lepontier im südlichen Alpenraum nie ein echter Machtfaktor gewesen zu sein. Selbst in Bezug auf die ethnische Zugehörigkeit ergibt sich kein klares Bild. Immerhin, was die Sprache betrifft, hat man festen Grund: Die erhaltenen Inschriften sind in einem keltischen Idiom abgefasst. Abgesehen davon, dass diese Grabinschriften und Aufschriften auf Keramik- und Bronzegefässen die frühesten erhaltenen Schriftzeugnisse aus dem Gebiet der heutigen Schweiz sind, zeigen sie, dass in den Südalpen schon vor der Kelteninvasion (Anfang 4. Jahrhundert v. Chr.) eine keltische Sprache gesprochen wurde, das Tessin also vielleicht von alters her keltischer Kulturraum war.

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Vogelförmiges Gefäss aus Arbedo-Cerinasca, um 375 - 250 v. Chr. (Bild pd)

Doch trotz Beziehungen zu Kelten einerseits, Etruskern und anderen italischen Völkern anderseits: Die Lepontier vermochten ihre eigenen Traditionen über längere Zeit hin zu wahren. Als Bewohner eines für den Handel über die Alpen hinweg wichtigen Gebietes profitierten sie vom Austausch zwischen den Kulturregionen und verstanden es, Einflüsse stets mit eigenen Traditionen zu verbinden. Die reich verzierten Objekte aus Bronze oder Eisen und die formal äusserst vielfältige Keramik aus dem 6. bis 1. Jahrhundert gehören wohl zum Feinsten, was aus der bronze- und eisenzeitlichen Schweiz erhalten ist. Obschon die Präsentation der Objekte etwas trocken geraten ist, wird man deshalb die Gelegenheit gern wahrnehmen, sich mit einem zu Unrecht vernachlässigten Kapitel der Schweizer Geschichte zu befassen; mit einem Volk, dessen Schweigen noch Generationen von Forschern beschäftigen wird.

Zürich, Landesmuseum, 28. April bis 12. August. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen: Zwischen Kelten und Etruskern - Die Lepontier. Grabschätze eines mythischen Alpenvolkes (Collectio Archaeologica. I 1). Chronos-Verlag, Zürich 2001. 152 S. Fr. 36.-.

 


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