Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Feuilleton, 7. November 2001, Nr.259, Seite 61

 

Die «Ilias» und die Archäologen

Der deutsche Troia-Streit

Seit der Ausstellungseröffnung in Stuttgart im vergangenen Frühling tobt in der deutschen Presselandschaft ein Streit um Troia. Ausgelöst wurde er von der Verbalattacke des Tübinger Althistorikers Frank Kolb gegen den Ausgräber Manfred Korfmann, und er hat manche namhaften Spezialisten involviert. Nun scheint die Zeit reif für eine Bestandesaufnahme zu sein: Wie der Archäologe im Gelände wird man dabei von der Oberfläche in immer tiefer liegende Schichten geführt.

Streitpunkt an der Oberfläche ist die Siedlung, die der vorgeschichtlichen Burg auf dem nordwesttürkischen Hisarlik-Hügel südlich vorgelagert ist: Handelt es sich bei dieser um wenige Häuser oder um eine befestigte Unterstadt, was kann man daraus für die Bedeutung des Ortes im späteren 2. Jahrtausend v. Chr. schliessen? Wer bei der Grabung nicht dabei war, wird sich in dieser Frage auch anhand der gewissenhaften Grabungspublikation - der seit 1991 jährlich erscheinenden Studia Troica - noch nicht entscheiden können. Doch wird er sie getrost auf sich beruhen lassen: Falls es eine echte Unterstadt nicht gegeben haben sollte, wird es nicht möglich sein, auf die Dauer ihre Existenz zu verfechten. Es genügt also, auf den Fortgang von Arbeiten und Publikation zu warten.

Geschmacksache

Wenn es also nur um diese Unterstadt ginge, wäre - so kann man vermuten - der Streit kaum ausgebrochen, er hätte jedenfalls den deutschen Pressewald trotz Sommerloch kaum so heftig und so dauerhaft ins Rauschen gebracht. Bei genauerem Hinsehen waren sein Auslöser aber nicht kontroverse archäologische Befunde und deren Interpretation, sondern ihre Präsentation in der zuerst in Stuttgart gezeigten Ausstellung «Troia. Traum und Wirklichkeit» (vgl. NZZ 30. 3. 01). Es ist verständlich, dass eine mit derart viel Pomp und Publizität daherkommende kulturelle Veranstaltung nicht nur gute Gefühle geweckt hat. Dasselbe gilt für das Begleitbuch, das sich eher an Traumreisende der Luxusklasse als an kritisch Lesende zu wenden scheint.

Wie sich Ausstellung und Katalog präsentieren, ist allerdings letztlich Geschmacksache: worüber man bekanntlich nicht streiten soll. Der Grund für die starken Emotionen liegt tiefer, nämlich darin, dass hier neben der Wirklichkeit ein Traum - seit Schliemann ein eminent deutscher Traum - zur Darstellung kommt. Was ist die Wirklichkeit? Sie ist der Hügel von Hisarlik mit seinen prähistorischen Ruinen und der ihn umgebenden Landschaft, deren archäologisch fassbare Geschichte in der frühen Bronzezeit einsetzt und bis zum byzantinischen Mittelalter reicht. Zu dieser Wirklichkeit gehören aber auch eine ganze Reihe von Fundorten in der Ägäis und in Anatolien, die in den vergangenen Jahrzehnten mit weniger Publizität, aber ebenso bedeutenden Ergebnissen erforscht worden sind. Die Darstellung dieser sich im 3. Jahrtausend v. Chr. herausbildenden kulturellen Konstellation, aus der unter anderem die frühe Kykladenkultur, das System der minoischen Paläste und letztlich auch die spätbronzezeitlichen Grossmächte der Hethiter und der Mykener hervorgegangen sind, wäre ein nicht weniger lohnendes Thema für eine publikumswirksame Ausstellung gewesen.

Glaubenssache

In der Troia-Ausstellung ist die Priorität klar dem Traum gegeben worden. Und darum geht es letztlich auch im besagten Gelehrtenstreit, was sowohl seine Heftigkeit erklärt wie auch den Umstand, dass er über den deutschen Blätterwald kaum hinausgegriffen hat. Träume, vor allem die von den grossen Dichtern geformten kollektiven Träume, haben der Kulturgeschichte nicht weniger mächtige Impulse gegeben als die historische Wirklichkeit. Das zeigt in der Ausstellung und im Katalog der dem Epos «Ilias» und seiner Rezeption gewidmete Teil. Die Allergien der Fachwelt sind aber dadurch geweckt worden, dass man, um die vom Hisarlik-Hügel gestellten Probleme zu klären, schon wieder - nicht anders als der Träumer Schliemann - Homer, bzw. die «Ilias», bemüht: Dass die Wahrheit des Dichters immer noch an der historischen Wirklichkeit - und umgekehrt die Archäologie an der Dichtung - gemessen werden soll.

Zugegeben: Argumente können heute ins Feld geführt werden, über die Schliemann noch nicht verfügte. Da ist der viel besprochene, vom Korfmann-Team 1995 gefundene Bronzesiegel mit luwischen Schriftzeichen, der als Beweis für die Zugehörigkeit der spätbronzezeitlichen Stadt zu Anatolien statt zur ägäischen Welt angeführt wird. Da ist der unterdessen von Hethitologen gelesene Vertrag zwischen dem hethitischen Grosskönig und seinem Vasallen Alaksandu von Wilusa, der mit der alten linguistischen Hypothese verknüpft wird, Wilusa könne Ilion meinen, den anderen Namen für Troia in der «Ilias», Alaksandu aber Alexander (wie der Priamos-Sohn Paris auch genannt wird). Da gibt es hohe und tiefe Datierungen der «Ilias», die eine entsprechend kürzere oder längere, durch Erinnerung und mündliche Tradition zu überbrückende Spanne zwischen dem vom Dichter besungenen Krieg um Troia und der Lebenszeit des Dichters zur Folge haben.

Das alles ändert nichts an der Tatsache, dass die Einschätzung der Wahrheit eines Dichters, der Erinnerungsfähigkeit einer mündlichen Kultur, der Kontinuität von Kultur über dramatische Kulturbrüche hinweg keine Geschmacksache sind, sondern Glaubenssache des einzelnen Forschers und letztlich unbeweisbar. Womit nicht gesagt sein soll, dass Forscher keinen Glauben haben sollen und nicht träumen dürfen. Nur sind damit einer emotionsfreien wissenschaftlichen Diskussion klare Grenzen gesetzt. Wenn ein Forschertraum dem Publikum gefällt, wenn er ausserdem dazu beitragen sollte, eine historische Landschaft profitgieriger Verschandelung zu entziehen, so wird man ihn sogar begrüssen. Und man wird sich wohl oder übel darauf einstellen, noch länger darauf zu warten, dass der Hisarlik-Hügel - zusammen mit den vergleichbaren Fundorten auf den griechischen Inseln, auf Kreta, in der Peloponnes und in Anatolien - zur Freude und zur Belehrung der interessierten Öffentlichkeit aus dem Schatten von Schliemanns Träumen in das Licht der archäologischen Wirklichkeit gerückt wird.

Cornelia Isler-Kerényi

 


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