Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
Klassische Sprachen |
Quelle:
Neue Zürcher Zeitung Feuilleton, 2. Oktober 2001, Nr.228, Seite 65
Das dionysische Hupkonzert
Griechenlandbilder zwischen Ehrfurcht und Ignoranz
Nur wenige Länder glaubt man in Deutschland so gut zu kennen wie Griechenland, das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse. Doch diese Vertrautheit ist trügerisch. Immer noch ist man vor allem auf das klassische Hellas fixiert, während Geschichte und Kultur des nachantiken und modernen Griechenland fast völlig unbekannt sind.
Auf den ersten Blick wirkt das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse wohlvertraut. Jedes Jahr verbringen mehrere Millionen Deutsche ihre Ferien in Hellas; fast 400 000 Griechen leben in Deutschland, das die grösste Diasporakolonie in Europa ist, ja eine der grössten weltweit, nur von jener in den USA und Australien übertroffen. Ausserdem ist das Land seit 20 Jahren Mitglied der EU. Und dennoch hat das Griechenland, das man zu kennen meint, mit dem realen Land nur wenig zu tun. Dies liegt daran, dass mit Griechenland und griechischer Kultur vor allem das antike Hellas assoziiert wird. Daran hat sich in Deutschland seit der Zeit von Klassizismus und Philhellenismus wenig geändert, auch wenn die Institution des humanistischen Gymnasiums und der Altgriechischunterricht vom Verschwinden bedroht sind.
Aber auch denen, die in der Schule nie Sophokles oder Platon im Originaltext gelesen haben, steckt die Ehrfurcht vor den alten Griechen in den Knochen. Nur in Griechenland kann man das erstaunliche Phänomen beobachten, dass selbst jene, deren Ferieninhalt vornehmlich aus Sonne und Strand besteht, wenigstens einige Pflichtbesuche archäologischer Stätten absolvieren - ein Verhalten, das ihnen in anderen, kulturell nicht minder reich gesegneten Weltgegenden nie in den Sinn käme. In den Reiseführern wird ausführlich über die antike Geschichte und Kunst referiert, für die Zeit danach bleiben meist nur einige wenige Seiten übrig, in denen ohne grössere Sachkenntnis willkürlich und oft zusammenhanglos Daten aneinander gereiht werden.
Ein Hellene in jedem Griechen?
Das klassische Altertum ist und bleibt der Bezugspunkt zum modernen Griechenland. «Man ritze nur ein wenig am Zeitkleid des Griechen, und die Haut des alten Hellenen kommt zum Vorschein», so heisst es einmal in einem jener zahlreichen Griechenland-Bildbände. In jedem gewitzten Gemüsehändler und Tavernenwirt sieht man einen modernen Odysseus, die politischen Wortgefechte im Kafenion und auf öffentlichen Plätzen gelten als Beispiel einer lebendigen, uralten Demokratie. Und muss man schliesslich doch feststellen, dass das antike Erbe nicht mehr so lebendig ist, bleibt immer noch die apologetische Erklärung, die auch Griechen ständig parat haben: dass hierfür niemand sonst die Verantwortung trage als die Türken, die das Land schliesslich vier Jahrhunderte beherrscht hatten.
Griechenland ist für viele Touristen ein Land, in dem die Dimension der Zeit keine Rolle zu spielen scheint. In Reiseführern und Bildbänden sowie in den Erzählungen der alljährlichen Griechenlandurlauber erscheint das Land wie ein zeitloses, ewiges Arkadien, das von der Moderne zwar nicht ganz unberührt, in seinem Wesen jedoch unverändert geblieben ist. Ein Land der Musse, ohne Stress und Hetze, dessen Bewohner immer viel Zeit haben und die nicht als Individuen, sondern als Archetypen wahrgenommen werden - als Hirten, Seeleute, Bauern oder Priester. Ein Land, in dem die Männer im Kafenion über Politik, Gott und die Welt debattieren und die Frauen zu Hause die Arbeit erledigen. Landschaften und antike Tempel, Ikonen und Szenen vom Osterfest, Hochzeiten in Volkstracht, diese Bilder finden sich in fast jedem Buch.
Heitere mediterrane Anarchie
Das ländliche Griechenland, das hier dargestellt wird, insbesondere auf den als Reiseziel beliebten ägäischen Inseln, ist alles andere als repräsentativ für das Griechenland von heute. Es verdankt sein ökonomisches Überleben vornehmlich seiner Funktion als Sommerfrische für Einheimische und Ausländer. Aber wer will schon gerne zur Kenntnis nehmen, dass die Hälfte der griechischen Bevölkerung heute in den Millionenstädten Athen und Saloniki lebt, wo es vor allem an Ruhe und Musse fehlt. In der Perspektive des Reisenden wird selbst der Alltag in den Grossstädten als heitere mediterrane Anarchie wahrgenommen, und klassisches Bildungsgut findet auch hier seinen Platz, wenn die akustischen Begleiterscheinungen des innerstädtischen Verkehrschaos als «dionysische Hupkonzerte» interpretiert werden. Würde man nur etwas länger hier verweilen, dann erschiene einem viel eher das Leben in Deutschland als arkadisch.
Als Gegenstand wissenschaftlichen Interesses findet das Griechenland jenseits des Altertums in Deutschland nur geringe Aufmerksamkeit. Während über die Antike an mehr oder weniger jeder deutschen Universität geforscht und gelehrt wird, muss sich bereits Byzanz mit weitaus geringerer Aufmerksamkeit zufriedengeben, und die nachbyzantinische Epoche scheint fast gar nicht zu existieren. Dieser Zustand wirkt noch krasser, wenn man ihn mit der Situation in anderen Ländern vergleicht. Bereits in Frankreich wird auch das neuzeitliche Griechenland weitaus stärker ins Blickfeld genommen, von England und den USA mit den gut etablierten «Modern Greek Studies» ganz zu schweigen.
Geringes Forschungsinteresse
Wer sich über historische und kulturelle Aspekte des letzten halben griechischen Jahrtausends kundig machen will, kann auf eine umfangreiche Literatur in englischer Sprache zurückgreifen, während sich die Zahl der in Deutschland dieser Thematik gewidmeten Publikationen noch mühelos überschauen lässt. Dabei handelt es sich meist um Einzelfragen gewidmete Monographien, häufig Dissertationen von Griechen, die an deutschen Universitäten promoviert haben. Was weitgehend fehlt, sind Überblicksdarstellungen, die nicht im Wissenschaftsjargon abgefasst, aber inhaltlich zuverlässig sind. Symptomatisch ist, dass die derzeit beste in deutscher Sprache greifbare Darstellung der neugriechischen Geschichte aus dem Englischen übersetzt wurde.
Auch im Bereich der schönen Literatur sind erhebliche Lücken festzustellen. Nur von Nikos Kazantzakis lässt sich behaupten, dass er in deutscher Übersetzung ausreichend präsent ist. Diese dominierende Stellung hat der Schriftsteller wohl nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass sein «Alexis Sorbas» mit Anthony Quinn in der Hauptrolle zum Kultfilm avancierte. Ansonsten sind griechische Filme fast nur in Programmkinos zu sehen, selbst die Filme von Theodoros Angelopoulos, dem international wohl bekanntesten Filmemacher aus Griechenland, machen hier nicht immer eine Ausnahme. Einer der bedeutendsten, wenn nicht gar der bedeutendste griechische Dichter des 20. Jahrhunderts, Konstantinos Kavafis, ist hierzulande erst in den letzten beiden Jahrzehnten richtig entdeckt worden, gut ein halbes Jahrhundert später als in England. In diesem Jahr sind allerdings zahlreiche Übersetzungen erschienen - zweifellos im Hinblick auf die Buchmesse, vorwiegend von Werken zeitgenössischer Autoren. Der Aufgabe, die neugriechische Literatur hierzulande zu vermitteln, widmen sich meist kleinere Häuser wie der Kölner Romiosini-Verlag, deren Bücher selten in Buchhandlungen ausliegen und die auch nicht über einen grösseren Werbeetat verfügen, um ein breiteres Publikum auf ihr Verlagsprogramm aufmerksam zu machen.
Das diesjährige Schwerpunktthema der Buchmesse bietet aber die Gelegenheit, dieses schiefe Griechenlandbild zu korrigieren und den deutschen Blickwinkel erheblich zu erweitern. Das umfangreiche dem Gastland gewidmete Programm zeigt den Ehrgeiz, mehr oder weniger alle wichtigen Facetten der griechischen Kultur zu präsentieren. Zu bedauern ist nur - aber dies gilt wie jedes Jahr -, dass die zahlreichen Ausstellungen, Filmvorführungen, Konzerte und Lesungen, die zum Teil bereits im Juni begonnen haben - wie das «Panorama des griechischen Films» im Deutschen Filmmuseum - und die sich in Einzelfällen bis ins nächste Jahr erstrecken, in vollem Umfang nur von jenen besucht werden können, die im Raum Frankfurt und Umgebung beheimatet sind.
Ekkehard Kraft
Zurück zur Seite "Varia 2001"