Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Latein, Griechisch
KZU


Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Feuilleton, 25. August 2001, Nr.196, Seite 66

 

Abschiedsmahl

Bei den Bewohnern von Keos gibt es ein Gesetz: Sind bei ihnen die Menschen sehr alt geworden und erkennen, dass sie dem Vaterland keine Dienste mehr erweisen können, da ihr Verstand mit dem Alter schon ein wenig töricht geworden ist, dann laden sie einander wie zu einem Gastmahl oder einem feierlichen Opfer ein, kommen zusammen, bekränzen sich und trinken den Schierlingsbecher.

 

Dieser beim griechisch schreibenden römischen Autor Aelian (etwa 170-240 n. Chr.) überlieferte Text weckt viele Fragen: Wer hat das Gesetz erlassen? War es ein demokratischer Beschluss aller? Oder nur der Nichtalten? Oder nur der Alten? Auch der Frauen? Der Grad der Blödheit, der den Suizid gesetzlich gebietet, hängt von der Aktionsfähigkeit für die Gemeinschaft ab. Was geschieht aber, wenn ein Mensch sein diesbezügliches Defizit erkennt, bevor er «sehr alt» geworden ist? Immerhin darf er nicht so blöd geworden sein, dass er nicht erkennt, dass er blöd geworden ist. Diese Gesellschaft schützt sich mit diesem Gesetz davor, hochgradig Blödsinnige beherbergen zu müssen. Woran jedoch erkennt einer, dass er dem Vaterland «keine Dienste mehr erweisen» kann? Entwickelt sich dieser Erkenntnisprozess allmählich, oder schlägt die Erkenntnis jäh wie ein Blitz ein? Macht jemand die Alten freundlich oder schroff darauf aufmerksam? Ist dieser «Jemand» von den Behörden offiziell bestellt? Wie definieren sich die «Vaterlandsdienste» der Frau?

War eine Mindestzahl von Suizidwilligen festgelegt, damit eine solche Suizidfeier stattfinden konnte? Wie oft fand ein solcher Schlussakt statt? In der Zeit der aufblühenden oder der absterbenden Natur? Luden die Kandidaten einander selber zur finalen Feier ein? Konnte die Einladung auch abgelehnt werden? Galt dann der nächste Termin?

Wie verlief das Suizidalfest? Bestimmt wurde üppig gespeist und reichlich getrunken, soweit es die körperliche Verfassung zuliess. Wie war die Stimmung? Ausgelassen, euphorisch, traurig-gedämpft, besinnlich oder sachlich, geschäftsmässig rituell? Wenn euphorisch, durch halluzinogene Stoffe bewirkt oder verstärkt? Worüber sprachen die Anwesenden? Oder schwiegen sie? Hielt jemand Reden? Eher rückwärtsgewandte oder das Jenseits ausmalende? Oder wurde das Leben nach dem Tod tabuisiert? Wurde zur Tapferkeit aufgerufen, zum letzten hehren Dienst am Vaterland, oder zum letzten Genuss angefeuert? Nahmen auch Angehörige, Freunde oder gar Aussenstehende am Todesfest teil? Auch die Kandidaten für das nächste Mal? Wie verhielt sich der überlebende Gatte, die überlebende Gattin? Gingen Ehepaare gemeinsam in den Tod, auch wenn der Partner oder die Partnerin noch intakten Geistes war? Unterstützten die Kinder den Sterbeakt, rieten sie dazu oder suchten, im Gegenteil, ihre Mutter, ihren Vater mit allen Mitteln zurückzuhalten? Waren beim Zureden immer lautere Absichten im Spiel?

Bei wem fand dieses letzte Treffen statt? Bei einer Privatperson, die nicht in den Tod ging, oder bei einem Sterbewilligen? Oder in einem öffentlichen Gebäude? Und war dieses Gebäude nur zu diesem einen Zweck bestimmt, als Todeshalle zu dienen? Wer übernahm die Kosten? Wer setzte den Todestrunk als Erster an seine Lippen? Oder tranken ihn alle auf einmal auf ein gegebenes Zeichen? Etwa einen Tusch? Oder erklang eine Leitmelodie? Wurde gebetet? Gab es solche, die im letzten Augenblick zurückschreckten? Wurden diese dann zum Leeren des Bechers gezwungen? Durch wen? Etwa einen Priester oder Beamten? Redeten diese ihnen zu, sanft oder energisch? Wirkte bei allen das Gift gleich schnell? Oder wurde bei zu langsamem Sterben ein zweiter Trunk nachgereicht? Wer «entsorgte» die Toten? Erhielten sie ein Gemeinschaftsgrab, eventuell mit rühmender Aufschrift und Namensnennung?

Erkennt man, dass Aelians Text einen verrückten, grossartigen Komödienstoff birgt, der stets haarscharf die Tragödie streift? Einen Stoff, der eines Dürrenmatt würdig gewesen wäre.

Kurt Steinmann

Claudius Aelianus: Bunte Geschichten. 3. Buch, Stück 37. Übersetzt von Hadwig Helms. Reclam-Verlag, Leipzig 1990.

 


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