Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Feuilleton, 8. August 2001, Nr.181, Seite 54

 

Ratschlag der Götter

Veit Rosenberger über griechische Orakel

Was sagte den Griechen das Gurren der heiligen Taube im Eichenhain von Dodona? Was bedeutete ihnen der oftmals dunkle Spruch der delphischen Pythia? Was für Auskünfte suchte, wer sich nach umständlichen Reinigungsritualen in die unterirdischen Gänge des sogenannten Totenorakels von Ephyra begab? Wir wissen, dass Orakel im politischen wie im privaten Leben der Griechen von der Archaik bis in die Spätantike eine wichtige Rolle spielten. Mehr als sechzig Orakelheiligtümer sind neben dem berühmten Delphi bekannt. Um einen göttlichen Rat einzuholen, wurde eine Vielzahl von Techniken angewendet - neben den verschiedenen Formen der inspirierten Mantik auch Los-, Würfel- und Buchstabenorakel und andere «Zufallstechniken» mehr.

Früh schon wurden Orakel aufgezeichnet, gesammelt und archiviert. Doch im Einzelnen sind wir nur ungenau unterrichtet. Die inschriftlichen und archäologischen Zeugnisse sind örtlich und zeitlich sehr ungleich verteilt, und nur selten dokumentieren sie Ritual, Kultpersonal und Ratsuchende über einen längeren Zeitraum hinweg. Der in Mythos, Geschichtsschreibung und Literatur entwickelte «Orakeldiskurs» lässt Rückschlüsse auf die tatsächliche Praxis nur bedingt zu. Das macht das Terrain schwer überschaubar.

Nun hat der Augsburger Althistoriker Veit Rosenberger das disparate Material zu einer «Kulturgeschichte» des griechischen Orakelwesens gebündelt, die zugleich eine «allgemein verständliche Einführung» bieten soll. Seine gut lesbare Darstellung, die im Anmerkungsteil die einschlägige neuere Forschung erschliesst, gibt zunächst einen systematischen Überblick über die Techniken und die Funktionen der Orakelbefragung im Kontext der Poliskultur wie auch des Privatlebens. Bei den Konsultationen der Orakel handelte es sich für die Griechen, so Rosenbergers Grundthese, weniger um eine Angelegenheit des Glaubens als vielmehr um eine «Kulturtechnik»: «Das Orakel stellt sich als eine symbolische Arena dar, in der die gesellschaftliche Ordnung bestätigt oder neu formiert wird.» Es ging den Ratsuchenden um «Legitimation und Entscheidungshilfe», um «die Verarbeitung von Unglück, die Bildung und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Normen sowie die Ausübung von Macht». Städtische Anfragen zielten oftmals auf die Sanktionierung politischer oder kultischer Reformen. Kriegführung und Kolonisation wurden nach Möglichkeit durch Orakel legitimiert. Privatleute suchten Rat bei riskanten Unternehmungen wie weiten Reisen, Heirat oder Umsiedlung, bei Rechtsstreitigkeiten und in Statusfragen, in Fällen schwerer Krankheit usw.

Orakelbefragungen waren, so Rosenberger, «zutiefst kommunikative Vorgänge». Dies nicht nur auf Grund der dialogischen Struktur der Befragung, sondern vor allem auch deshalb, weil die Entscheide zumeist interpretiert werden mussten. Darin vor allem lag ihre «kulturtechnische» Funktion. Entscheidungsfindung wurde entsubjektiviert und diskutabel gemacht. Diesen Interpretationsansatz erweitert Rosenberger im dritten Teil seines Buchs zu einer «kleinen Mediengeschichte des Orakels». Als «Medium» fasst er dabei «all das, was Funktionen in sozialen Informations- und Kommunikationssystemen übernimmt» - im Falle der Orakel also die Götter selbst, die Seher und Priester, die Weihgeschenke und Inschriften sowie die mit der Befragung verbundenen Riten.

Insgesamt ist hier ein nützlicher und anregender Zugang zum Thema eröffnet. Rosenberger formuliert pointierte Thesen, die das methodische und begriffliche Instrumentarium der neueren religions- und kulturwissenschaftlichen Forschung reflektieren. Der Untertitel seines Buchs ist jedoch ein wenig zu hoch gegriffen: Um den Anspruch einer «Kulturgeschichte» zu erfüllen, bedürfte die durchaus illustrative Ausbreitung des Materials systematischerer Interpretation und genauerer historischer Kontextualisierung. Die Einordnung der Orakelpraxis in das grössere Feld der antiken Divination wird nicht recht deutlich, und zu bedauern ist, dass die antike Kritik am Orakelwesen nicht zusammenhängend beleuchtet wurde.

Barbara von Reibnitz

Veit Rosenberger: Griechische Orakel. Eine Kulturgeschichte. Theiss-Verlag Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001. 213 S., Fr. 37.-.

 


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