Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Neue Zürcher Zeitung Ressort Feuilleton, 23. Juli 2001, Nr.168, Seite 23

 

Wem gehören die Elgin Marbles?

Die Rückgabeforderung der griechischen Regierung

Von Philipp Blom

Sie waren eine wichtige Inspiration der englischen Romantiker und begeisterten Byron, Shelley und andere Dichter, waren Teil eines klassizistischen Neuentwurfes der britischen Kultur und regten die Archäologie an, und noch heute gehören sie zu den kostbarsten Besitzen des Inselreiches: die Elgin Marbles im British Museum. Heute allerdings sind sie nicht sosehr Inspiration als Steine des Anstosses im Zentrum einer hitzigen Debatte über Rückführung, Ethik und das moralische Eigentum an Kulturgütern.

Die Geschichte der Kunstwerke ist schnell umrissen: Thomas Bruce, der Earl of Elgin, der britische Botschafter in Athen, hatte die Marmorskulpturen des Parthenons, die wahrscheinlich zum Grossteil von dem griechischen Meister Phidias (490-430 v. Chr.) stammen, 1802 mit langen Sägen aus dem Tempelbau heraustrennen und nach Grossbritannien verschiffen lassen, wo er sie in seinem Landhaus aufstellen wollte. Er hatte die Skulpturen vom türkischen Gouverneur Griechenlands gekauft und sah sie als seinen Privatbesitz an. Schon damals wurde Elgins Vorgehen als kultureller Vandalismus angesehen und angegriffen, unter anderem von Lord Byron, der sich stark für die griechische Unabhängigkeit einsetzte. Eine Parlamentskommission wurde einberufen, und die Kunstwerke wurden 1816 für 35 000 Pfund für die Nation erworben. Heute sind etwa die Hälfte aller Parthenon-Skulpturen im British Museum, der Rest befindet sich in Athen, ein Fragment ist im Louvre zu sehen.

Rückgabeforderung

Die Leidensgeschichte der Skulpturen, die zu den besten Werken der griechischen Kunst gehören, hatte nicht mit Lord Elgin begonnen. Schon 426 v. Chr. waren sie von einem Erdbeben beschädigt worden. Im Mittelalter wurde der Tempel, von dem bereits Ornamente entfernt und nach Venedig abtransportiert worden waren, erst in eine Kirche und dann, nach 1458, in eine Moschee mit Minarett verwandelt. 200 Jahre war der Tempel, das spirituelle Zentrum der hellenischen Zivilisation, zu einem Munitionslager herabgewürdigt. Als 1687 die Venezianer Athen belagerten, traf ein Geschoss das Dach. Die Explosion richtete grossen Schaden an.

Nun will die griechische Regierung die Skulpturen zurückhaben. Als Kulturministerin ihres Landes weinte Nana Mouskouri in London vor den Werken, die ihrer Heimat entrissen worden waren. Die Olympischen Spiele in Athen, die 2004 stattfinden sollen, wären das ideale Datum, ein eigens für die Kunstwerke gebautes Akropolis-Museum einzuweihen, heisst es aus der griechischen Hauptstadt. Befürworter der Rückgabe der Elgin Marbles, darunter auch das Europäische Parlament, die Unterzeichner der Unidroit-Konvention über den internationalen Austausch von Kulturgütern und Archäologen wie der wortgewandte Brite Lord Renfrew, sagen, die Restitution an Athen sei eine Geste, die endlich beweise, dass Kolonialismus und Imperialismus nicht nur als politische Realitäten, sondern auch als Mentalität endgültig begraben werden könnten. Was damals gestohlen und geplündert wurde, soll endlich den rechtmässigen Eigentümern zurückgegeben werden.

Moralischer Anspruch

Moralischer Eigentumsanspruch ist ein verlockendes Konzept: Es spricht zu unseren Gefühlen und passt in eine Welt, in der alte Ungerechtigkeiten wieder gutgemacht werden sollen und in der sich Tony Blair bei den Iren für Jahrhunderte der Unterdrückung entschuldigt. Die Vergangenheit ist eben doch nicht sicher vor der Gegenwart und wird in unserem eigenen, oft recht selbstzufriedenen Bilde neu geschaffen. Leider ist, wie immer, die Frage nicht so einfach. Die Skulpturen wurden nicht gestohlen, sondern von der damaligen türkischen Regierung rechtmässig erworben, und der moralische Anspruch Griechenlands auf die Parthenon-Skulpturen, wie die Griechen sie nennen, ist nicht nur schwer zu begründen, er würde auch, falls ihm stattgegeben würde, einen internationalen Präzedenzfall mit unabsehbaren Folgen schaffen. - Hier geht es nicht um Fragen wie Konservation und Restauration, die allerdings in der Debatte auch eine Rolle spielen: 1939 wurden die Elgin Marbles vom British Museum bei einer Restauration beschädigt, eine Tatsache, die Befürworter des Status quo, die argumentieren, Griechenland hätte diese Kunstwerke niemals erhalten können, nicht gerne eingestehen. Hier kommt man auf umstrittenes Territorium.

Die Abgüsse aus dem 18. Jahrhundert, die heute im Ashmolean Museum in Oxford verwahrt werden, zeigen, wie schwer die Kunstwerke schon vor ihrer Demontierung beschädigt worden waren. Und die U-Bahn-Linie, welche in Athen direkt unter der wichtigsten noch nicht ausgegrabenen hellenistischen Nekropole durchführt und deren Bau diese nach Ansicht vieler Archäologen schwer beschädigte, zeigt, dass auch für die griechische Regierung heute die Erhaltung von Kulturgütern nicht immer oberste Priorität ist. - Diese Fragen aber sind marginal. Was wichtiger ist, ist das Prinzip des moralischen Anrechtes moderner Staaten auf Artefakte, die mit der Geschichte dieser Länder (nicht aber dieser Staaten) eng verbunden sind.

Konsequenzen einer Rückführung

Wenn man den Anspruch auf Rückführung der Elgin Marbles akzeptiert, warum sollte sich die National Gallery in Washington dann ihrer grössten Meisterwerke sicher sein, die von Stalin aus der Hermitage an den amerikanischen Industriellen und Sammler Andrew Mellon verkauft wurden, obwohl sie, in einem kommunistischen Staat, ganz eindeutig dem Volk gehörten und schon seit Jahrhunderten in der Hermitage gehangen hatten? Ist der Willkürakt, den ein Diktator einem Museum zufügt, weniger signifikant? Was ist dann mit dem Pergamon-Altar in Berlin, der Nike von Samothrake in Paris und den babylonischen Statuen und Stelen in New York?

Wie ist es mit den Tausenden von ägyptischen Kunstwerken, die von Bernardo Drovetti im 19. Jahrhundert zusammengerafft und von Mohammed Ali, dem ottomanischen Gouverneur Ägyptens, zentnerweise verkauft wurden? Sollte man die Schätze zurückgeben, die Cortez den Inkas raubte, und, wenn ja, wem? Welches Museum kann dann überhaupt noch die Rechtmässigkeit seiner Besitzansprüche auf Stücke beweisen, die vor mehr als hundert Jahren in völlig anderen internationalen juristischen Umständen gekauft oder einfach aus damaligen Kolonien abtransportiert wurden?

Die moralischen Eigentumsansprüche auf Kunstwerke mit einer langen Geschichte sind oft sehr kompliziert zu bestimmen: Kaiser Rudolf II. zum Beispiel, der um 1600 Künstler und Wissenschafter an seinen Prager Hof holte und Objekte aus Europa und aus Übersee einkaufte, schuf eine unvergleichliche Sammlung von Gemälden, Skulpturen, Gold- und Silberschmiedearbeiten, wissenschaftlichen Instrumenten, Büchern und anderem. Am Ende des Dreissigjährigen Krieges sicherte sich die schwedische Königin Christina einen grossen Teil der Sammlung als Beute. Sie machte den Schatz per Dekret zu ihrem persönlichen Eigentum und nahm ihn, nach ihrer Abdankung, mit sich nach Rom. Nach ihrem Tod wurden die Stücke verkauft, und ein Grossteil kam in den Besitz des Duc d'Orléans und wurde nach dessen Tod einzeln auktioniert. Stücke aus Rudolfs Sammlung sind heute verstreut und hängen, liegen oder stehen, privat oder öffentlich, in Wien, Prag, Amsterdam, Frankfurt, London, Dresden, Warschau, Stockholm, Paris, Washington und so weiter und so fort.

Wer aber hat, diesen strengen Kriterien nach, das moralische Recht auf die Stücke? Anwärter wären das Haus Habsburg, die Tschechische Republik (die Heimat der Sammlung), der Staat Österreich (der damalige Familiensitz der Habsburger, deren Eigentum zum Grossteil Staatseigentum wurde), die schwedische Königsfamilie (in deren Eigentum es als Kriegsbeute einging), der schwedische Staat (der diesen Anspruch anfechten könnte) und schliesslich eine Vielzahl von früheren Eigentümern, die Einzelstücke unter politischem Druck dem Kaiser überlassen mussten, wie zum Beispiel südamerikanische Indianer, die noch immer eine damals «verlorene» heilige Federkrone einfordern.

Weitere Fragen stellen sich: Sollte die Sammlung nicht als Gesamtkonzeption respektiert werden? Hatte der Herzog von Orleans das Recht, geplünderte Stücke aus Italien auszuführen, oder wurde er damit zu einem glorifizierten Hehler, wie Christina eine königliche Diebin war? Nach heutigem Recht hätten die Objekte ihrem Eigentümer zurückgegeben werden müssen, auch wenn sich dieser Eigentümer heute kaum bestimmen lässt. Waren die Stücke in Christinas Sammlung (viele davon von italienischen Meistern gemalt) nach dreissig Jahren in Rom nicht aber längst italienisches Kulturgut geworden, und hatten die Nachfolger des Herzogs von Orleans das Recht, wieder zu verkaufen, was inzwischen Teil der französischen Geschichte war?

Der langen Liste kurzer Sinn ist, dass es unmöglich ist, moderne Kriterien von Rechtsstaatlichkeit, internationalem Rechtsverständnis, Volksvertretung, Demokratie und sogar von Nationalität und nationalem Erbe und Eigentum auf eine Vergangenheit anzuwenden, die nach ganz anderen Grundsätzen funktionierte und in der es weder ein organisiertes internationales Recht gab noch moderne Nationalstaaten.

Kulturelles Besitzrecht

Prag war weder Teil eines tschechischen noch eines österreichischen Staates, und es ist nicht immer unumstritten, den Rechtsnachfolger des Habsburgerreiches zu bestimmen. Gleichfalls ist ungeklärt, ob das «diktatorische Regime» der türkischen Besetzer Griechenlands im 19. Jahrhundert wirklich im modernen Sinne so verstanden werden kann und welche Nation das «kulturelle Besitzrecht» auf die Werke geltend machen kann: Griechenland, die ehemalige Heimat, das sie nicht vor Zerstörung schützen konnte und auch die hellenistische Zivilisation über Jahrhunderte hinweg nicht weiterführte, oder Staaten wie Deutschland und Grossbritannien, deren Kulturträger sich als Erben dieser Zivilisation verstanden und viel zu ihrer Erforschung und Konservation beitrugen.

Kultureller Besitz ist längst internationalisiert worden. Wer hat das Recht, das Eigentum einer Kulturnation zu entäussern, und wer entscheidet, was unter diese Definition fällt, zumal ein Grossteil dieser Werke geschaffen wurde, bevor es Nationalstaaten im modernen Sinne gab? Frankreich hat sowohl den Flamen van Gogh als auch den Spanier Picasso ehrenhalber «eingebürgert», um eine rechtliche Handhabe zur Verhinderung des Exportes ihrer Werke zu haben. Sowohl van Gogh als auch Picasso wären mit dieser Neuinterpretation ihrer Identität nicht unbedingt glücklich. Weiter noch: Wie viele Jahrhunderte sollte man zurückgehen, um «rechtmässiges kulturelles Eigentum» zu bestimmen, und wie bestimmt man «nationales Kulturerbe» im konkreten Fall? Ausserhalb einer modernen Rechtsstaatlichkeit ist die Kette unendlich - ein historischer Punkt für einen kulturell und politisch akzeptablen Status Quo ist unmöglich zu finden, ganz abgesehen davon, dass das Konzept der Nationalität vor dem 19. Jahrhundert nur sehr begrenzt anwendbar ist.

Wenn man das Axiom des nationalen Kulturerbes konsequent zu Ende denken würde, dann hätte kein Staat ein Anrecht auf künstlerisch oder historisch wertvolle Stücke, die vom Nachfolgestaat einer anderen Kultur als kulturell wichtig bezeichnet werden, auch wenn diese Nachfolgeansprüche oft anfechtbar sind. Das bedeutete, dass alle wichtigen ägyptischen Stücke nur in Ägypten zu sehen sein würden, dass deutsche Museen ohne Nofretete, Pergamon-Altar, Raffael und Rubens wären, dafür aber, um Dürer, Holbein - der viel in England schuf -, Matthias Grünewald - der im Elsass arbeitete -, Caspar David Friedrich und Joseph Beuys bereichert, deutscher würden als in Hitlers kühnsten Träumen.

Die kulturelle Provinzialität dieser Brave New World der internationalen Selbstgerechtigkeit ist atemberaubend. Internationale Ausstellungen wären unmöglich, weil kaum ein Museum oder ein Privatsammler wichtige Stücke in ein Land ausleihen würden, das diese als «wichtiges Kulturerbe» beschlagnahmen könnte, und Kunsthändler müssten sich auf Stilmöbel oder Pralinen verlegen, denn ihr Beruf wäre unmöglich geworden.

Natürlich gibt es Fälle, in denen die Sachlage nicht nur moralisch, sondern auch juristisch gesehen klar ist. Kunstwerke etwa, die von den Nazis geplündert wurden, sind gegen international noch immer gültige Rechtsnormen gestohlen worden und sind auch, soweit möglich, ihren ursprünglichen Besitzern restituiert worden. Der Unterschied dieser Fälle zu den Elgin Marbles ist offensichtlich: Hier fand die Enteignung oder Plünderung der Kunstwerke in einem modernen rechtlichen Rahmen statt, was die Frage nach einem ausserrechtlichen, moralischen Anspruch überflüssig macht. Dass die Elgin Marbles bis 2004 nach Griechenland gelangen, ist anzuzweifeln. Die britische Regierung zeigt bis jetzt keinerlei Bereitschaft, sie zurückzugeben. Was auch immer aber geschieht, die Debatte um die Skulpturen ist kein akademischer Streit, sondern eine Debatte um unser Kultur- und Geschichtsverständnis, deren Resultat das internationale Kulturleben grundlegend mitbestimmen könnte.


NZZ vom 1. 3. 2000: Der Lord mit der Säge

 


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