Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Ressort Tourismus, 26. April 2001, Nr.96, Seite 79

 

Wo Faust die schöne Helena traf

Mistrá, magischer Ort auf dem Peloponnes

Faust und Helena sitzen im Hof ihres Palastes und diskutieren mit ihrem Sohn dessen gefährliche Flugexperimente. Kurze Zeit später ist es passiert - Euphorion abgestürzt und tot zu der Eltern Füssen. Die Szene, im dritten Akt von Faust II, spielt auf dem Peloponnes, in Mistrá. Goethe war nie dort. Er hatte nur eine Lithographie des Engländers Gell von 1823 gesehen und daraus die romantische Schönheit des Ortes abgelesen. Er verlegte die symbolische Vereinigung von klassischer Schönheit in Helena mit Faust, als Repräsentant des Abendlandes, in die Nähe Spartas. Die heute gesichtslose Betonstadt kann man getrost vergessen, Mistrá nie. Die byzantinische Kloster- und Palaststadt wirkt auch heute noch als verzauberter Ort.

Wir hatten uns Mistrá über die gut ausgebaute Panoramastrasse genähert, die sich von Kalamáta aus nach Osten über das Taygetosgebirge schwingt. Und wieder Goethe, wenn Phorkyas der Helena berichtet: «So viele Jahre stand verlassen das Talgebirg, das hinter Sparta nordwärts in die Höhe steigt, Taygetos im Rücken. Dort hinten still im Gebirgstal hat ein kühn Geschlecht, sich angesiedelt, dringend aus cimmerischer Nacht, und unersteiglich feste Burg sich aufgetürmt, von da sie Land und Leute placken, wie's behagt.» - Die «feste Burg», welche die malerischen Ruinen Mistrás überragt, baute Guillaume de Villehardouin 1249, ein fränkischer Kreuzritter, der 1204 nach der Eroberung Konstantinopels auf die Halbinsel des Pelops kam, wo es ihm, wie anderen seines Stammes, wohl gefiel. Er heiratete eine schöne byzantinische Prinzessin, nach deren Beschreibung in einer Chronik Goethe seine Helena gestaltet haben soll. Die fränkische Herrlichkeit dauerte jedoch nur kurze Zeit. 1262 wurde Mistrá byzantinisch und religiöser, militärischer und vor allem kultureller Mittelpunkt des Peloponnes. Dichter und Philosophen lebten hier. Klöster und Kirchen wurden gebaut, die man mit herrlichen Wandmalereien schmückte. Sie sind der Schatz einer Metropole des byzantinischen Mittelalters, die den Besucher noch heute überwältigt. Die Kirchen Mistrás werden zum Bilderbuch und zu einer Art Stilfibel byzantinischer Malerei des späten 13., des 14. und 15. Jahrhunderts. Man betritt jede der sieben Kirchen und auch die kleinen Grabkapellen voller Neugier auf die Geschichten aus dem Alten und dem Neuen Testament, die an Wänden, Kuppeln und Apsiden erzählt werden.

Da stemmt in der Mitropolis-Basilika der geheilte Gelähmte sein Bett kraftvoll über den Kopf und folgt buchstäblich dem Wort Christi: «Steh auf, nimm dein Bett und gehe heim (nach Hause).» Die Jünger hinter Christus diskutieren lebhaft das Wunder. Die Gestalten erscheinen eher gedrungen im Gegensatz zu den hageren Asketen und Märtyrern, Kirchenvätern und Propheten, die auf kleinen Füssen zu schweben scheinen. Engel kommen angeflogen. Sie reissen den Betrachter in ihre stürmische Bewegung hinein. Schwebend halten sie die Glorie Christi, elegant und kraftvoll zugleich. Rot und golden gewandet, mit purpurnen Flügeln vor blauem Himmelsgewölbe, fehlt ihnen alles Liebliche, Sanfte, das wir mit Engeldarstellungen bisweilen verbinden.

Innerhalb des an einem Bergkegel aufgestaffelten Stadtbildes fällt am meisten das Pandanassa-Kloster und seine von acht Kuppeln gekrönte Kirche ins Auge. Es ist von allen Bauten Mistrás am besten erhalten und noch von schwarz gekleideten Nonnen bewohnt, die den Fremden freundlich in ihre Läden winken, wo sie Handarbeiten, Ikonenkopien oder Drucke und andere Devotionalien anbieten. Die der «hochheiligen Gottesgebärerin und Allherrscherin» (Pandanassa) 1428 geweihte Kirche ist eine interessante Komposition von dreischiffiger Basilika und Kreuzkuppelkirche. Ihr vierstöckiger Glockenturm fränkischer Herkunft erinnert an französische Glockentürme romanischer Kirchen. Im Inneren der Kirche schaut aus himmlischer Höhe die Gottesmutter mit dem Kind auf dem Schoss auf die Gläubigen herab. Als Gottesgebärerin sieht man sie, das Haupt sinnend gestützt und vom Kind abgewandt, in für uns ungewohnter Pose.

Stundenlang, tagelang kann man bergauf, bergab auf gepflasterten Strassen und grasbewachsenen Pfaden durch das ausgedehnte Gelände streifen. Das Rot der Ziegeldächer und Kuppeln erhellt die Melancholie der Ruinenstadt. Die ehemaligen Bürgerhäuser, in idealer Hanglage eng aneinander gebaut, die Villen der Patrizier mit zinnengekrönten Türmen, Terrassen und Treppen, wurden im griechischen Befreiungskampf zerstört. Die Bewohner zogen in das im Jahre 1831 von König Otto gegründete, neue Sparta. Sie verwandten als Baumaterial Trümmer der verfallenden Stadt, wie ihre Vorfahren die Trümmer Spartas in Mistrá verbaut hatten - ein nützliches, jedoch kunsthistorisch fatales Recycling.

Stets war das komfortable städtische Leben Mistrás bedroht gewesen: durch Franken, Venezianer, Albaner, vor allem durch die Türken. 1423 drangen sie bis Mistrá vor, verwüsteten den Peloponnes. 1453 fällt Byzanz. 1460 wird Mistrá endgültig türkisch. Zwar sinkt nun seine Bedeutung, aber es bleibt blühendes Handelszentrum mit 42 000 Einwohnern, die von Seidenproduktion und -handel leben. Einige der Kirchen werden in Moscheen umgewandelt, wie die kleine, harmonische «Agia Sophia», deren Turm nun als Minarett diente. Man hat sie schonend restauriert. Zwar blieben relativ wenig Wandmalereien erhalten. Umso stärker ergreift das gütige Antlitz Christi in der Apsis des Altarraums, im Unterschied zum unnahbaren Pantocrator in vielen Kirchen.

Es sind immer wieder die kleinen Kirchen, die sich dem Gedächtnis tief einprägen. Die schönste von ihnen, die Klosterkirche «Perivleptos» an der Südostecke der äusseren Befestigungsmauer Mistrás, ist nicht leicht zu finden. Der Baumeister hat ein wahres Kunststück vollbracht und ein fast spielerisch wirkendes, sich in eine Felsnische schmiegendes Gotteshaus geschaffen, dessen zentrale Kuppel sich kokett und reich verziert über Giebeln und Apsiden wellt. Die «Perivleptos» ist eine Schatztruhe, ausgekleidet mit kostbaren Malereien des späten 14. Jahrhunderts, die an Differenziertheit der Darstellung alles bisher Gesehene übertreffen. Die hohen, schlanken Gestalten wirken zart und zerbrechlich, anmutig und transparent. Der Messias, der auf weissem Eselchen durch die aufgeregte Volksmenge Jerusalems reitet, umhüllt von Einsamkeit, ist schon nicht mehr von dieser Welt.

Von der Überfülle architektonischer und malerischer Eindrücke kann der Besucher sich im weit ausgebreiteten Palastkomplex erholen. Auf einem Plateau der Oberstadt gelegen, gewährt er durch die Fensterhöhlen einen Blick auf die graugrüne, von Gebirgen umkränzte Ebene.

Brigitte Macher

 


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