Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Neue Zürcher Zeitung Ressort Tourismus, 26. April 2001, Nr.96, Seite 77

 

Ein Skelett hinter kugelsicherem Glas

Athens neue Metrostationen sind Touristenattraktionen

Seit 1992 mussten Athener und Touristen mit Bauzäunen mitten im Zentrum am Syntagma- und Omonia-Platz leben, mit bei Tag und Nacht andauerndem Geratter der Baumaschinen, mit durch die Fahrbahneinengungen zusätzlich verstopften Strassen. Touristenbusse schafften ihre Programme nicht. Oft kollabierte der Verkehr nahezu völlig. Auch die Ehrenwache vor dem Parlament, die Evzonen, vollzogen ihre akkurat gestampften Schritte hinter hohem Bauzaun, dicken Baustaub atmend. Es war für alle eine achtjährige Geduldsprobe. Doch nun strahlen die Metrostationen am Syntagma- und am Omonia-Platz in Marmor und Chrom, rauschen die modernen Bahnen im Vier- bis Zehnminutentakt hinaus zu den Vororten Kifissia und Daphni zum Beispiel. Nach Piräus, dem Hafen von Athen mit den zu allen Inseln auslaufenden Fähren und den internationalen Kreuzfahrtschiffen, muss man nach wie vor am Omonia-Platz umsteigen - hier allerdings in die alten Bahnen. Auch die neu geschaffene Station Akropolis ist seit kurzem fertig. Statt in Strassen blockierenden Bussen sollen künftig die Touristenscharen per Metro zur Akropolis pilgern.

Das Warten und die Unannehmlichkeiten haben sich gelohnt. Für die Archäologen ergaben sich Hunderte von Sternstunden. Selbst sie hatten nicht geahnt, was der bis dahin unberührte Schoss der Metropole Griechenlands für Schätze und Aufschlüsse barg. Die weit in die Tiefe gehenden Erdarbeiten für die Einbringung der Tunnelröhren waren eine einmalige Gelegenheit, die sich nie wieder ergeben würde, so die Archäologin Olga Zachariadou, die Vergangenheit des wichtigsten griechischen Stadtstaates auch an dieser Stelle ans Licht zu bringen.

Jahrtausendealte Zivilisationsschichten kamen zutage, darunter die vorklassische Zeit der griechischen Demokratie, als der Tyrann Peisistratos im 6. Jh. v. Chr. den Stadtstaat Athen erstmals mit Frischwasser aus den Quellen des nahen Bergzuges Hymettos versorgen liess. Sorgfältig gearbeitete Tonrohre, mit Geschick vermufft und mit Reinigungsöffnungen versehen, kamen zutage, so gut erhalten, als seien sie gestern erst verlegt worden. Unter der Leitung Olga Zachariadous schufteten hundert Arbeiter, vierzehn Archäologen, dazu Architekten und Ingenieure allein eineinhalb Jahre in der Unterwelt unter dem Syntagma-Platz. Genau hier - damals vor den Toren Athens - bestattete man über mehrere Jahrhunderte die Toten. Hier wurde das mit römischem Zivilisationsschutt verfüllte Flussbett des antiken Eridanos gefunden, kamen Bronze- und Marmorstatuen ans Licht, bemalte Gefässe, Tonfigürchen, Schmuck und sogar das Grab eines Hundes mit kostbarem Halsband und zwei Glasgefässen als Grabbeigabe.

Museum unter der Erde

Unbürokratisch entschieden Archäologen und Metroverwaltung, diese erstaunliche Vergangenheit in die Gegenwart einzubeziehen, und zwar in ungewöhnlicher Weise: Die Metrostationen wurden zugleich Museum. Seit der Syntagma-Platz nun in neuer Schönheit erstrahlt und an der Ostseite wie ein Höllenschlund zum Hades breite Marmortreppen in die U-Bahn führen, kommen Benutzer und Besucher der Station aus dem Staunen nicht mehr heraus. Auf besonderes Interesse stösst das Skelett eines Verstorbenen mit Grabbeigaben hinter kugelsicherem Glas in einer Wand, die die sich über Jahrhunderte erstreckenden Schichten der Ausgrabungen an Ort und Stelle dokumentiert. Deutlich hebt sich auch das Flussbett des Eridanos ab, und es ist ein Stück der Kanalisation zu sehen. In Vitrinen auf Granitsockeln sind, effektvoll beleuchtet, Kapitelle, Grabsteine, Webgewichte, Münzen, Schmuck und schöne Gefässe zu bewundern. Unmittelbar unter dem Traditionshotel Grande Bretagne wurde ein gut erhaltener Mosaikfussboden aus römischer Zeit freigelegt, der geschickt in die Metroausstellung einbezogen wurde.

 

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Wie im Museum: Die Metrostation Syntagma lohnt den Besuch besonders. (Bild R. V. Scheiper)

Auch die Vitrinen mit Schmuck und Gefässen der Station Evangelismós lohnen einen Besuch. Dort steht zusätzlich ein Brennofen hinter einer Glaswand. Weitere Exponate überraschen in der Haltestelle Panepistimío (zwischen Syntagma- und Omonia-Platz in der Strasse Eleftheriou Venizelou). Nicht alle Exponate sind Originale. Auch Kopien befinden sich unter den Ausstellungsstücken, was jedoch aus Sicherheitsgründen der Beschilderung der einzelnen Gegenstände nicht zu entnehmen ist, obwohl auch die Vitrinen aus kugelsicherem Glas bestehen.

In der Station Akropolis, an der Südseite unterhalb des Akropolis-Felsens, sind Kopien der berühmten Elgin Marbles zu sehen, der Parthenon-Skulpturen und -Friese, die im Londoner Nationalmuseum so hervorragend konserviert blieben - im Gegensatz zu den Skulpturen und Friesteilen, die noch bis vor kurzem am Parthenon verblieben, durch die Abgas- und Luftemissionen fast bis zur Unkenntlichkeit zerfressen sind und jetzt nach der Abnahme endlich im Akropolis-Museum einen Platz gefunden haben. In allen Stationen glänzt und leuchtet es vor blank poliertem Marmor und Granit. Neonlichter werfen Reflexe hundertfach zurück. Die chromblitzenden Geländer der Treppen sind nach den Vorbildern antiker Tempelgitter gearbeitet. Grossflächige Mäandermuster auf dem Boden aus rotbraunem Granit unterstreichen die antike Kultur Athens, der dieses Muster entstammt.

Bei diesem Mammutprojekt, zu dem Brüssel einen nicht unerheblichen finanziellen Beitrag leistet, fand auch Kunst am Bau ihren Platz mit Werken zeitgenössischer griechischer Künstler. Den zwanzig Meter tiefen Bohrschacht der Station Syntagma zum Beispiel hat der 97-jährige Bildhauer Georgios Zongolopoulos mit rostfreiem Edelstahl ausgekleidet. Ein imposantes Mobile aus farbigen, aufgespannten Schirmen und weissen Leitern bewegt sich im ständigen leichten Luftstrom der ein- und ausfahrenden Züge und spiegelt sich in den silberglänzenden Wänden des Schachtes. Dieses verhaltene Spektakel ist sowohl von oben durch eine Art gläsernen Pavillon rechts neben dem Metroeingang zu sehen als auch von der untersten Ebene des Schachtes aus.

Die kostbarsten Funde

Im nur etwa fünfzehn Minuten vom Syntagma-Platz entfernten Kykladen-Museum sind in zwei speziell für die Funde aus dem U-Bahn-Bau gemieteten Flügeln der klassizistischen Privatvilla Megaro Strathatou die kostbarsten Stücke ausgestellt. Darunter befinden sich das erwähnte Hundegrab mit Beigaben, der edle Marmortorso eines Jünglings, zauberhafte Marmorstatuetten und zierlich bemalte Grabvasen, Grabstelen mit zarter Bemalung von Trauer- und Opferszenen, schwarz- und rotfigurige Amphoren mit Darstellungen von Göttern, Münzen und sogar römische Wandmalereien. Vielfach sind neben den Exponaten Fotos der ursprünglichen Fundsituation angebracht, so dass sich der Besucher eine konkrete Vorstellung machen kann über die Fundsituation und die Placierung der Grabbeigaben neben oder auf den Toten. Einen ausgezeichneten Einblick in die jahrelangen komplizierten Bau- und Grabungsarbeiten geben grossformatige Fotos an den Wänden und Luftaufnahmen.

Im neu entstehenden Universitätsgelände im Vorort Zografou soll im Jahre 2002/03 ein archäologischer Park entstehen. Dort werde voraussichtlich, so die Direktorin des Kykladen-Museums, Eleni Didaskalou-Papadimitriou, die nur bis Ende 2001 im Kykladen-Museum beherbergte Teilausstellung der Funde aus der «Stadt unter der Stadt» in einem speziell dafür gebauten Museum eine endgültige Heimat finden, und zwar auch mit den Exponaten, die aus Platzgründen jetzt nicht gezeigt werden können.

Renate V. Scheiper

 

Das Kykladen-Museum (Museum of Cycladic Art, Neophytou Str. 4) ist geöffnet von 10-16 Uhr, Sa bis 15 Uhr, So und Di geschlossen. Eintritt 1000 Drachmen. Der 413-seitige grossformatige Kunstdruckkatalog «The City under the City» liegt in Englisch und Griechisch vor und kostet 25 000 Drachmen.

Die U-Bahn fährt täglich im 4- bis 10-Minuten-Takt ab 5.40 bis 24 Uhr. Einfache Fahrt 250, Tageskarte 1000 Drachmen.

 

 


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