Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Ressort Tourismus, 26. April 2001, Nr.96, Seite 75

 

Dodona und Ephyra - zwei antike Orakelstätten

Am Acheron, der Grenze zwischen Leben und Tod

Eigentlich wollten wir von Igumenitsa, wo die Fähre aus Ancona angelegt hatte, direkt nach Joannina. Wir kurvten also von der Küste ins gebirgige Nordwestgriechenland hinauf, noch immer im Alltagstempo mitteleuropäischer Hektik. Bald aber nimmt uns die Fremdartigkeit der Landschaft gefangen: abweisend kahle Hänge vor zerklüfteten Bergen, hinter denen wir im Dunst Albanien vermuteten, lieblich-sattgrüne Talauen mit Kastanienwäldern, Zypressen und silbergrauen Olivengärten. Die Artenvielfalt ist erstaunlich und für unser monokultiviertes Auge ungewohnt. Blühender Oleander wuchert wild und üppig entlang der Strasse und erinnert uns schwach an das kümmerliche Topfgewächs zu Hause. Es ist warm, aber im Talgrund sprudelt der Fluss Tyamis und verheisst schattige Kühle. Warum so eilig? Auf halber Strecke biegen wir von der Hauptstrasse ab und folgen einem verwitterten Piktogramm mit Bett und der Angabe «Polidoro, 6 km». Das Gasthaus entpuppt sich als kleiner Familienbetrieb, wir sind die einzigen Gäste. Nein, Touristen kommen eigentlich hier nie vorbei, meint Spyros, der «Hotelmanager», seine Gäste seien hauptsächlich Jäger aus der Stadt; geschossen werde auf Kaninchen und allerlei Vögel. Beim Abendspaziergang fallen uns dann auch die vielen bunten Patronenhülsen aus Plastic auf, die überall herumliegen. Das Abendessen auf der schmalen Terrasse mit Blick auf den Dorfplatz ist denkbar einfach. Spyros kocht selber, spendiert uns am Schluss einen höllisch scharfen Tsipuro, eine Art Grappa, und setzt sich zu uns. Er freut sich sichtlich über die Abwechslung. Informatiker sei er und habe viele Jahre in Athen gelebt. Das sei ihm aber mit der Zeit zu viel geworden: die schlechte Luft, der Lärm, die vielen Menschen und überhaupt. Wer kann ihm das verargen. Es ist, obwohl wir mitten im Dorf logieren, sehr still, und die Abendluft ist gewürzt vom Duft der nahen Pinienwälder. Wer wollte da schon mit Athen tauschen? Die Rückkehr aufs Land hat aber auch ihre Nachteile. Es gibt im Dorf mittlerweile keine Schule mehr, der Nachwuchs muss nach Joannina. So lebt denn seine Frau mit den drei Kindern die Woche über unten in der Stadt.

Das Orakelheiligtum von Dodona

Am nächsten Tag steht der Besuch von Dodona auf dem Programm, es ist die älteste Orakelstätte der Antike. Völlig unnötig, über Joannina zu fahren, versichert Spyros, der Weg quer über die Berge sei absolut kein Problem; na ja, kurze Schotterstrecken vielleicht. Stunden später haben wir es geschafft, auch wenn wir mehrmals um Auspuff, Achsen und Räder fürchten mussten. Aber Dodona entschädigt vollumfänglich für die Strapazen. Das archäologische Gelände ist fast ohne Touristen, und in aller Ruhe können wir das schon von Homer beschriebene Orakelheiligtum auf uns wirken lassen. Zentrum ist nicht ein mächtiger Tempel wie in Delphi, sondern ein unscheinbares Mauergeviert mit einer - heute neu gepflanzten - Eiche. Hier wurden Zeus Naios und Dione Naia um Rat gebeten. Das Rascheln und Flüstern der Eichenblätter war dann die Antwort der Götter. Grösstes Bauwerk der Anlage ist aber nicht diese Kultstätte, sondern ein imposantes Theater; es ist so gut erhalten, dass sommers hier antike Tragödien und Konzerte stattfinden können, was angesichts der grandiosen Landschaftskulisse ein unvergessliches Erlebnis sein muss. Auch ein erst unvollständig ausgegrabenes Stadion bezeugt, dass hier allerhand los gewesen ist und den Bittstellern ausser weisen Orakelsprüchen einiges an Unterhaltung geboten wurde. Die Fragen der Ratsuchenden sind übrigens bekannt. Die Ausgrabungen haben Bleitäfelchen zutage gefördert, auf denen sie eingeritzt sind. Im Museum in Joannina ist ein Teil davon ausgestellt.

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Das imposante Theater von Dodona, in dem in jedem Sommer Festspiele stattfinden. (Bild key)

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Joannina, eine osmanische Stadt

Schon haben wir uns an das träge Landleben gewöhnt, und die Hektik des Verkehrs und das Menschengewühl in Joannina befremden. Die gut 60 000 Einwohner zählende Stadt ist Zentrum der Provinz Epirus und Knotenpunkt einer West-Ost- und einer Nord-Süd-Achse. Ruhe und Beschaulichkeit sind hier nicht angesagt. An der verstopften Hauptstrasse, der Odos Averoff, reihen sich Banken, Juwelier- und Lederwarengeschäfte, Hotels und wieder Banken. Im archäologischen Museum finden wir die Bleitäfelchen von Dodona. Die gestellten Fragen sind erheiternd: So möchte ein Lysanias von Zeus und der Dione wissen, «ob das Kind, das Nyla erwartet, von ihm sei oder nicht». Oder stimmen eher nachdenklich, wenn Nikokrateia fragt, «welchem Gott sie Opfer darbringen solle, um wieder gesund zu werden». Viele Weihegeschenke, mit denen die Orakelsprüche bezahlt wurden, sind hier ausgestellt. Wir werfen auch einen Blick auf die Funde aus dem Nekromanteion, dem Totenorakel von Ephyra, das als nächster Programmpunkt vorgesehen ist. Am Ende der Averoff-Strasse, nach unzähligen Geschäften mit Silberwaren, stösst man auf die Altstadtfestung. Ein Schritt durch das mächtige Tor, und eine andere Welt tut sich auf: niedrige Häuser, ein Labyrinth an engen Gässlein, wenig Autos. Joannina ist eine sehr alte Stadt, 528 gegründet angeblich vom byzantinischen Kaiser Justinian. Erst 1913 kam sie zu Griechenland. Diese lange Zeit osmanischer Herrschaft ist hier in der Altstadt gut spürbar. Traditionell gebaute Häuser, zum Teil liebevoll restauriert, eine Moschee mit Minarett, die Reste eines Serails, in dessen Hof das Mausoleum für Ali Pascha steht. Die Aslan-Aga-Moschee beherbergt heute ein sehenswertes Volkskundemuseum, das die Aktivitäten der türkischen Bevölkerung dokumentiert. Wer war überhaupt Ali Pascha? Ein Blick ins Geschichtsbuch klärt auf: Ali Pascha, Albaner und Herrscher über ganz Epirus, versuchte um 1800 einen autonomen, von Istanbul unabhängigen Staat zu gründen. Eigenmächtig nahm er diplomatische Beziehungen zu westlichen Staaten auf. Verständlicherweise war das dem Sultan in Istanbul unerträglich, und Ali Pascha wurde 1821 kurzerhand umgebracht. Das erklärt natürlich problemlos seinen heutigen Status als griechisch-epirotische Kultfigur! Wir verlassen das stille Kastro an seiner Nordseite und wechseln wieder abrupt die Szene. Joannina liegt an einem See, der gesäumt ist von einer breiten Uferpromenade. Im Schatten riesiger Platanen reihen sich Cafés und Tavernen. Hier trifft man sich, geniesst die kühle Abendbrise vom See und leistet sich vielleicht ein teures Fischgericht oder auch nur ein «Frappé, metrio, me gala», aufgeschäumten kalten Kaffee, leicht gesüsst, mit Milch und Eis, und sinniert über die seltsam ungriechische Atmosphäre des Ortes.

Das Totenorakel von Ephyra

Am nächsten Tag nehmen wir wieder die Strase unter die Räder und wenden uns südwärts Richtung Ambrakischer Golf. Ephyra mit dem Nekromanteion, eine weitere Orakelstätte, ist das Ziel. Einmal aus dem Tamarosgebirge hinaus, langweilen wir uns durch die Schwemmebenen des Louros und des Acherondas. Heute landwirtschaftlich intensiv genutzt, waren diese Regionen in der Antike versumpft und unwegsam. Die Orakelstätte von Ephyra, einer antiken Stadt, von der heute fast nichts mehr zu sehen ist, überragt auf einem Hügel die Acherondas-Ebene, dort, wo sich der Fluss früher zu einem See verbreitert hat. Die unwirtliche Gegend muss in antiker Zeit etwas Unheimliches ausgestrahlt haben. Der Fluss Acheron war für die antiken Griechen die Grenze zwischen Leben und Tod. Und zwar markierte der Standort des Heiligtums genau die Stelle des Übergangs ins Totenreich. Besonders unheimlich war der Ort, weil hier die sonst unpassierbare Grenze zwischen Diesseits und Jenseits in beide Richtungen offen war! Nur hier war es möglich, mit den Toten in Kontakt zu treten und sie um Rat anzugehen. Dass diese «Grenzüberschreitung» für alle Beteiligten mit grossen Gefahren verbunden war, ist in vielen antiken Mythen überliefert. Ein hoch ritualisierter Ablauf der Befragung gewährte Schutz vor den Mächten der Unterwelt. Die Ausgräber der Anlage glauben, Spuren dieses Rituals in den Gebäuderesten feststellen zu können: Man betritt den klotzigen Bau auf seiner Nordseite über einen Vorhof mit Priester- und Pilgerräumlichkeiten. Ein enger Korridor, gesäumt von verschiedenen Räumen, führt aussen um den eigentlichen Kultsaal herum. Hier sollen die Pilger auf das grosse Ereignis vorbereitet worden sein: Rituelle Waschungen, spezielle Speisen, berauschende Getränke haben wohl ihre Sinne benebelt. Es folgt ein labyrinthischer Eingangsbereich, einst verschlossen mit mehreren schweren Bronzetüren, und endlich gelangt man in den damals vermutlich fast dunklen Kultraum. Hier fand die unheimliche Begegnung mit den Toten statt, abgesichert von der Aussenwelt durch mächtige, über drei Meter dicke Mauern. Unter dem Raum, in einem in den Fels hineingebauten Tonnengewölbe, sassen die Priester und hörten sich die Fragen der Bittsteller an; die Gewölbedecke aus porösem Kalkstein soll dies akustisch möglich machen. Die Ratsuchenden hörten also die Antworten aus dem Boden heraus, aus der Unterwelt aufsteigen. Froh, der Düsternis und den Schatten der Unterwelt entrinnen zu können, klettern wir wieder an die Oberfläche und spüren erleichtert die warme Sonne auf der Haut. Die Grillen zirpen, und die quakenden Frösche erinnern uns daran, dass hier irgendwo tatsächlich der Acheron fliesst. Das Diesseits hat uns wieder.

Geneviève Lüscher

Informationen: Griechische Zentrale für Fremdenverkehr, Löwenstrasse 25, 8001 Zürich, Tel. (01) 221 01 05, Fax 212 05 16.

 

 


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