Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Quelle:

Neue Zürcher Zeitung Ressort Feuilleton, 21. Februar 2001, Nr.43, Seite 57

 

Ein «Adlon» des Altertums

Die Rätsel um ein römisches «Hospitium» in Pompei

Letzten Herbst erschienen in italienischen Zeitungen effekthaschende Kurzmeldungen über erstaunliche Funde («Albergo di lusso») in Murecine bei Pompei. Weitere Grabungen im Laufe des Dezembers bestätigten die Aussergewöhnlichkeit des Ortes.

Beim Bau der Autobahn Neapel-Salerno stiess man 1959 bei Murecine, südlich der Porta di Stabia von Pompei, auf die damals schon Aufsehen erregenden Reste eines grossen, äusserst qualitätvoll eingerichteten Gebäudes mit aufgestapelten noch nicht verwendeten Marmorplatten. Die Platten trugen Graffiti, welche die Gens der Sulpicii als die Besitzer des Komplexes auswiesen. Die Notgrabungen befreiten kleine Teile des Gebäudes und legten Fresken frei, deren Qualität zum Teil weit über der der üblichen Malerei Pompeis stand. Weitere Untersuchungen mussten unterbleiben, abgesehen von der vorläufigen Publikation einiger Fresken, die dem Publikum nicht oder kaum zugänglich waren. Als im letzten Jahr die Autobahn verbreitert wurde, gelang es dem Soprintendente von Pompei, Pietro Giovanni Guzzo, in Zusammenarbeit mit der Autobahndirektion neue Ausgrabungen vorzunehmen, weitere Komplexe freizulegen, den Grundriss des aussergewöhnlichen Gebäudes besser zu erkunden und etwas mehr Licht auf die bisher rätselhaften Reste, die zum grossen Teil vom Flusse Sarno und seinen Ablagerungen verschüttet beziehungsweise auch geschützt wurden, zu werfen. Die Ausgrabungen unterstanden A. De Simone und M. Mastroroberto.

Raffinement und Luxus

Ein aufwendiges Pumpsystem kanalisierte das Grundwasser, legte den ehemaligen Lauf des Sarno fest und erleichterte die Grabungen, die noch nicht in allen Teilen abgeschlossen sind. Freigelegt wurde bis jetzt der Plan von mehreren Räumen mit Triclinien (Bankettliegeplätzen), die sich um ein Ambulatorium, eine Wandelhalle, gruppierten, vor der eine Porticus triplex, eine dreiarmige Säulenreihe, die Sicht auf das Viridarium, den Garten, und die Meerseite frei liess. Neben den 1959 gefundenen Triclinium-Räumen wurden weitere Räume mit je drei grossen, prachtvoll ausgestatteten Triclinien, die zur Zeit der Zerstörung durch den Vesuvausbruch 79 n. Chr. nur zum Teil mit den erwähnten Marmorplatten verkleidet waren, vollständig ausgegraben. Nicht nur die Grösse der Räume (4,60 x 4,80 m), die Grosszügigkeit der Triclinien, die kostbare Bodenverkleidung (Cocciopesto), sondern vor allem die Qualität der Fresken, welche die ganzen Räume vollständig dekorierten, spricht für einen ausserordentlich reichen und vornehmen Komplex, der bis jetzt in Pompei und Umgebung einmalig ist und über dessen Bedeutung Unklarheit herrscht. Die Raffinesse und der Luxus der Einrichtung ergeben sich auch aus dem Faktum, dass im Triclinium C ein runder Tisch gefunden wurde, zu dem ein kompliziert angelegtes System von Wasserröhren, ausgehend von den Rändern der Triclinien, führte.

Eine auf Holzrädern befestigte, bewegliche Schiebevorrichtung aus Holz, welche die Tricliniumräume vom Ambulatorium bei Bedarf trennen konnte, hat sich dank der feuchten Bodenbeschaffenheit zum grossen Teil erhalten, ebenfalls die Metallverschlüsse. Treppen führen in ein Obergeschoss, das allerdings durch den Vesuvausbruch von 79 n. Chr. vollständig zerstört wurde, wobei wertvolle Mosaikreste und Malereien in das untere Geschoss fielen. Die zum Komplex gehörende Thermenanlage auf gleicher Ebene wurde gleichzeitig bis auf eine Höhe von ca. 2,50 m zerstört.

Die Malereien der äusseren Triclinien A und C waren auf der Hauptseite auf pompeianischrotem Grund gemalt, während der mittlere Raum B einen schwarzen und weissen Grund aufwies. Gerade der Raum B wurde leider stark zerstört. Immerhin ist das Programm klar: die beiden Dioskuren und Helena, unterbrochen von verschiedenen architektonischen Elementen. Die schon 1959 abgelösten, zum Teil zerstörten Dioskuren sind von aussergewöhnlicher Qualität, der eine in silbergrauen Farben mit stark betonter Muskulatur gehalten, so dass es wahrscheinlich wird, dass eine Silberstatue in das Medium der Malerei übertragen wurde. Die anderen Räume tragen unterschiedliche Motive zwischen den architektonischen Malereien, Raum A: Apoll und die Musen, auf der weissen Westwand Alkestis. Raum C: Göttinnen, Mänaden, Apoll und Dichterinnen.

Die Wandmalereien gehören mit ihren gemalten architektonischen Durchblicken eindeutig dem sogenannten 4. Stil an, sind somit genau datierbar, wie denn überhaupt der ganze Gebäudekomplex durch verschiedene Elemente zeitlich unzweifelhaft eingeordnet werden kann. Die jüngsten Ausgrabungen ergaben, dass das aussergewöhnliche Anwesen um 50 n. Chr., kurz vor dem ersten Erdbeben von 62 n. Chr., erbaut worden ist und dann 62 n. Chr. stark zerstört wurde. Die Wandmalereien sowie die Klinen entstanden erst nach 62 n. Chr. Die vorher im einfachen Stile begonnenen Thermen wurden nach 62 in luxuriöser Ausstattung ausgeführt. Die Anlage mit der Marmorverkleidung der Klinen war noch nicht ganz fertig, als 79 n. Chr. Pompei und die Umgebung um den Sarno, der damals einen andern Verlauf nahm, völlig zerstört wurden.

Schon nach den ersten Untersuchungen der Marmorplatten und ihrer Graffiti nach 1959 wurde vermutet, dass die Familie der Sulpicii, eine in Puteoli beheimatete begüterte Geschäfts- und Bankiersfamilie, sich nach 62 n. Chr. am damaligen Verlaufe des Sarno zwischen Meer und Pompei ein Nobelhospitium (Hotel) für reiche Kaufleute erbauen liess, was für die Wichtigkeit dieser Gegend in Bezug auf Handel, Wirtschaft und Industrie an einem strategisch wichtigen Punkt spricht: Haben wir es demnach wirklich mit einer Art «Adlon» des Altertums zu tun, in dem die reichsten Bankiers und Handelsherren aus Neapel und Puteoli abstiegen und ihre Geschäfte tätigten? Der kritische Archäologe wird jedoch auch eine andere Interpretation des Gebäudes als Stätte einer wichtigen Berufskorporation nicht ganz ausschliessen, wenn auch die Lage ausserhalb der Porta Stabia die Hypothese einer Verwendung als Hotel nicht unwahrscheinlich macht.

Weitere «alberghi a tre stelle»

Ende Dezember 2000 mehrten sich in der italienischen Presse Meldungen über weitere kleinere «alberghi a tre stelle», angeblich kleine Hotels längs des altes Flusslaufes des Sarno südlich des eben beschriebenen grossen Komplexes. In einem der kleinen «Hotels» (?) fanden sich die Leichen eines älteren Mannes und eines kleinen Mädchens, das echten, massiven Goldschmuck von rund 3 kg, bestückt mit Edelsteinen und Perlen, um Hals und Arme trug, Arbeiten ganz aussergewöhnlicher Qualität und schwersten Goldes. Eines der Armbänder in Form einer Schlange trägt auf der Innenseite die Inschrift «dominus suae ancillae», der Sklavin von ihrem Dienstherrn, was in Anbetracht der bescheidenen «Hotel-»Behausung (Absteige?) in der Tagespresse zu pikanten Interpretationen führte. Auch hier wird der Archäologe und Altertumswissenschafter die seriösen Untersuchungen seiner Kollegen vor Ort abwarten und sich vor allzu gewagten Spekulationen hüten. Dagegen sprechen auch die Funde augusteischer Münzen, welche angeblich der «dominus» seiner «ancilla» schenkte und die in einem Beutel gefunden wurden.

Ein bis jetzt unbekannter weiterer grosser Komplex rund 200 m westlich des grossen Gebäudes scheint eben erst eruiert worden zu sein, der dank der Finanzierung der Direktion der Autobahn wohl ausgegraben werden kann. Durch die neuen Funde ausserhalb von Pompei lässt sich auch das Umfeld zwischen Pompei und dem Meer, dem ehemaligen Flusse Sarno entlang, besser erkunden. Die Autostrade meridionali haben auch eine hervorragend illustrierte, mit archäologischen und naturwissenschaftlichen Texten der massgebenden Archäologen und Naturwissenschafter versehene Publikation, «. . . Mitis Sarni opes», finanziert, welche unter der Leitung von Antonio De Simone und Salvatore Ciro Nappo im Dezember 2000 erschienen ist.

Annalis Leibundgut

 

 

Bild

Fresken des 4. Stils im Triclinio A, Ostwand
Murecine bei Pompei
(702 x 520 Pixels)

 

 


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