Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Sonntagszeitung 4. Februar 2001

 

Keltisches Manhattan

Beim Bau einer Autobahn sind Basler Archäologen auf eine 2000 Jahre alte Stadt gestossen

VON MISCHA HAUSWIRTH

Basel - Mit einer spektakulären Aktion sorgten Basler Ingenieure letzen Sommer für Schlagzeilen: In einer technischen Meisterleistung verschoben sie die alte Dreirosenbrücke, um den Bau der neuen, doppelstöckigen Nordtangenten-Brücke zu ermöglichen.
Weit weniger Aufsehen erregte dagegen ein sensationeller Fund, den Basler Archäologen fast gleichzeitig und fast am selben Ort machten: In der Baugrube entdeckten sie Reste von zehn keltischen, zum Teil sehr gut erhaltenen Töpferöfen, die unter der heutigen Voltastrasse ein eigentliches Töpferviertel bildeten, sowie viele weitere Hinweise auf eine urbane Gesellschaft, die sich etwa 150 vor Christus am Rheinknie niederliess.
Dass die Kelten, genau genommen die Rauriker, vor mehr als 2000 Jahren im heutigen Basel - dort, wo die Novartis forscht - siedelten, ist schon seit Anfang des letzten Jahrhunderts bekannt. Doch erst die jüngsten Grabungen brachten ans Licht, was sich wirklich auf dem 15 Hektaren umfassenden Gelände zwischen Voltaplatz, Gasfabrik und Novartis befindet: Bei der Siedlung handelte es sich um eine hoch entwickelte, strukturierte Stadt. Obwohl die Grabungsarbeiten noch auf Hochtouren laufen, sprechen die beteiligten Wissenschaftler bereits von einem archäologischen Grosserfolg.
Neben dem keltischen Basel sind bis heute lediglich drei weitere Orte bekannt, die die Bezeichnung «Stadt» verdienen: Manching in Deutschland, Mont Beuvray und Alesia in Frankreich. Zwar fand man auch dort Töpferöfen und Keramik, doch nur in Basel stiessen die Wissenschaftler bei ihren Grabungen auf ein ganzes Töpferviertel innerhalb einer Siedlung. Die Entdeckung sei eine «Sensation», sagt der Kantonsarchäologe Peter-Andrew Schwarz, die neue Aufschlüsse über das Leben der Ur-Basler zulasse: Trieben die Rheinkniekelten Handel mit anderen Städten? War Basel einst gar eine Töpfermetropole?
Dass die Keltenstadt mit Tonerzeugnissen handelte, gilt als erwiesen. Welche Strecken die Teller, Krüge und Schmuckstücke aus Basels Werkstätten zurücklegten, müssen die Forscher indes noch herausfinden. Dass Geld als Zahlungsmittel im Spiel war, belegen Münzenfunde. Vermutlich bezahlte man mit den Einnahmen aus der Keramikproduktion den aus der Vesuv-Gegend bezogenen Wein - die Kelten waren bekannt dafür, dass sie nur ungern auf Wein verzichteten.
Keramikfunde und Öfen weisen darauf hin, wie verfeinert die Handwerkerkenntnisse bereits gewesen sein müssen. Es gab Öfen, in denen die Töpfer Alltagsgefässe wie Kochtöpfe brannten, andere hingegen dienten nur zur Herstellung von Feinkeramik wie Flaschen. Bisher ging man davon aus, die Öfen seien nur einmal gebraucht worden. Doch der am besten erhaltene, im Sommer entdeckte Ofen zeigt im Heizkanal Renovationsspuren - klare Anzeichen für eine mehrmalige Verwendung.
Neben den Ofenfunden füllen eine Reihe neuer Erkenntnisse die fehlenden Lücken im Puzzle, wie die Stadt einmal ausgesehen haben könnte und wie die Menschen darin lebten. So sprechen etwa die immer gleiche Ausrichtung der Grundstückparzellen und die Lage des Töpferviertels laut Kantonsarchäologe Schwarz eine klare Sprache: «Die Stadt wurde nicht willkürlich, sondern nach einem Zonenplan angelegt und errichtet. Wegen der Feuergefahr legten die Architekten das Töpferviertel an den südlichen Stadtrand.»
Der Nachweis der Parzellengrenzen spielt eine wichtige Rolle, damit das Überbauungsraster rekonstruiert werden kann. Reste von Wänden und Pfostengruben zeigen: Die Häuser waren aus Holz und Lehm gebaut. Gräbchen zwischen den Parzellen weisen auf Zäune hin; vermutlich mochten schon die Kelten nicht, wenn der Nachbar ständig zu einem herüberschielte.
Für damalige Verhältnisse war die Stadt ein Manhattan. Ungefähr 500 Leute lebten im keltischen Basel, unterteilt in drei soziale Schichten. Wer auf welchen Parzellen lebte und wie arm oder wohlhabend jener war, der die abgenagte Hühnerkeule in die Abfallgrube schmiss, ist indes noch unklar. Gewiss ist hingegen, dass vor dem Errichten der Häuser die Grundstücke planiert wurden. Die Bewohner schaufelten Gruben, die entweder als Keller, Abfallsammelstelle oder Latrine dienten.
Zuerst hatte man die Gruben für Wohnhöhlen gehalten, Analysen durch Archäozoologen und Archäobotaniker korrigierten jedoch diese Annahme. Funde wie Tierknochen, Münzen, Keramik, Pflanzensamen sowie Nahrungs- und Fischreste sind wie ein in die Erde geschriebenes Geschichtsbuch. «Durch die Untersuchung der Pollen- und Samenreste in den Gruben wissen wir heute, dass die Bewohner von damals vor allem Hirse assen», sagt Schwarz. «Dazu gab es viel Fisch wie Schleie oder Lachs, Gerste, Rind und Hausschwein.»
Die Siedlung war definitiv kein ländliches Dorf. Die Hirse- und Getreideproduktion sowie die Viehzucht hatten die Rauriker ausgelagert, denn sonst hätte man die typischen Samen von Ackerunkräutern finden müssen - oder Spuren von Ställen. Da sich wenig Knochen von Wildtieren in den Abfällen finden, nehmen die Forscher an, dass kaum gejagt wurde. Den spärlichen Fleischbedarf deckten die Bewohner mit gezüchteten Rindern und Schweinen, manchmal auch mit Schafen oder Ziegen.
Entdeckt hatte die Siedlung der Basler Privatgelehrte Karl Stehlin schon 1911. Wenige Jahre später fand man im Norden ein Gräberfeld, dann wurden die Grabungen eingestellt. Erst 1989 wurden sie wieder aufgenommen, und Ende letzten Jahres überzeugten die neusten Funde, die die Archäologen vorzuweisen hatten, auch die Basler Regierung - sie hiess einen Kredit von 8,98 Millionen Franken bis 2006 für die Fortsetzung des Projektes gut.
Allerdings können die effektiven Grabungen nur so lange dauern, bis die Teermaschine über das letzte Stück Nordtangente fährt. Das 3,1 Kilometer lange Autobahntrassee wird das teuerste Teilstück, das sich die Schweiz je geleistet hat. Ab 2002 ist die Schweizer Seite über einen Tunnel mit dem Euro-Airport in Mulhouse verbunden.

Plötzlich verschwanden die Rauriker; wegen Übernutzung der Böden?

Damit die Archäologen bis zum Ende der Bauarbeiten möglichst viel Fläche untersuchen können, mussten sich Bauleitung und Kantonsarchäologe Schwarz etwas einfallen lassen: Weil über den Dächern der Kelten Häuser und Fabrikanlagen stehen und die archäologisch interessanten Flächen daher nicht vor dem Baubeginn angegangen werden konnten, integrierte die Bauleitung die Grabungsequipe ins Bauprogramm. Auf diese Weise gelang es, die Arbeitsabläufe so zu koordinieren, dass den Archäologen nicht dauernd Bagger und Planiermaschinen im Nacken sassen und sie keine Bauverzögerung verursachten.
Die ungewöhnlichen Grabungsverhältnisse zwangen die Archäologen, innovative Methoden anzuwenden. So rekonstruierten sie den ursprünglichen Geländeverlauf mit Hilfe von Plänen aus dem Jahre 1800 (heute befinden sich meterhohe Aufschüttungen und unzählige Leitungen über der keltischen Schicht). Im Querschnitt sah der Bodenverlauf wie ein Wellblech aus mit Wölbungen und Dellen. Die Wölbungen bestanden aus Rheinschotter; in den Dellen befinden sich die keltischen Schichten. Die Pläne lieferten den Archäologen Anhaltspunkte darüber, wo sich Grabungen lohnen.
Weil bei den Grabungen Eile geboten ist, benützen die Archäologen für die Aufzeichnung der Bodenprofile eine Digitalkamera. Das Zeichnen geschieht dann computerunterstützt, nachdem der Rechner alles in den richtigen Massstab übertragen hat. Zeitersparnis gegenüber den üblichen Handzeichnungen: rund 25 Prozent.
Die jüngsten Grabungen haben in kurzer Zeit viele neue Erkenntnisse über das keltische Stadtleben geliefert. Doch ein Rätsel bleibt nach wie vor ungelöst: Warum gaben die Bewohner die Stadt nur 70 Jahre nach der Gründung - also etwa 80 vor Christus - wieder auf? Belegt ist, dass die Rauriker und Helvetier 58 vor Christus auswanderten. Es fehlen demnach gut 20 Jahre. «Wir wissen nicht, was in dieser Zeitspanne geschah», sagt Peter-Andrew Schwarz. «Entweder stimmen unsere Datierungen nicht, oder es passierte etwas Schlimmes.» Eine Seuche, eine Hungersnot, Stammesunruhen oder Hochwasser könnte die ersten Basler vertrieben haben, oder aber, und das ist laut Schwarz am wahrscheinlichsten, eine landwirtschaftliche Übernutzung der Böden in der Umgebung.
Nach der verlorenen Schlacht bei Bibracte beorderte der römische Feldherr Cäsar die geschlagenen Helvetier zurück in ihre verlassenen Wohngebiete. Auf dem Areal der Novartis siedelte nach 58 vor Christus aber niemand mehr. In die Zeit der Heimkehr fällt vermutlich die Gründung Basels durch eine Siedlung auf dem Münsterhügel, und wenig später entstand die ´Colonia Rauricaª, aus der später die Stadt Augusta Raurica im heutigen Kaiseraugst hervorging.


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