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Tages-Anzeiger Kultur, 3. Januar 2001, Seite 49

 

Verbotene Tränen

Die Hochkultur ist tot, es lebe die Spasskultur. Ach je.


Autor: Von Peter Müller

Einfach Spass muss sie machen, trivial soll sie daherkommen, und trashig hat sie auch zu sein. Nur wenn sich die Kultur banalisiert, wird sie im neuen Jahrtausend eine Überlebenschance haben. Wehe ihr, wenn sie darauf besteht, dass auch der Kopf ein Körperteil ist. Wenn sie sich mit dem Griff ans Herz und in die Unterhose nicht begnügen mag. Wenn sie die Instantbefriedigung verweigert und dem Diktat der Unmittelbarkeit trotzt. Dann wird ihr in den Magazinen, über die der heilige Zeitgeist gekommen ist, gleich der Totenschein ausgestellt. Hier ruht in ewiger Langeweile die Hochkultur. Häme ihrer Asche.

Die trauernden Hinterbliebenen schlucken leer. Das Triumphgeheul der Populisten ärgert, hat aber vielleicht sein Gutes. Es stellt die Hochkultur brutal in Frage. Was ist es eigentlich, das sie uns unverzichtbar macht? Warum kann uns "Big Brother"-Daniela den ollen Goethe nicht ersetzen? Während die Trendsetter der Spasskultur den Chic der Dummheit begiessen und in eine fidele Zukunft glotzen, mag ein Blick zurück nicht schaden. Back to the roots, sozusagen.

Ein Dichter wird gebüsst

Eine merkwürdige Geschichte. Der antike Historiker Herodot erzählt sie im 6. Buch seiner "Historien". Die griechische Stadt Milet an der kleinasiatischen Küste hatte gegen die persische Besatzungsmacht revoltiert und "die Freiheit geschmeckt". Die Perser rächten sich, legten die Stadt 494 v. Chr. in Schutt und Asche und verkauften ihre Bürger als Sklaven. Zwei Jahre später schrieb der Athener Phrynichos, ein früher Tragödiendichter, ein Stück mit dem Titel "Der Fall Milets". "Als er das Stück aufführte, brach das ganze Theater in Tränen aus, und Phrynichos musste tausend Drachmen Strafe zahlen, weil er das Unheil der (griechischen) Brüder in Erinnerung gerufen hatte. Und niemand durfte das Stück je wieder spielen."

Das ist die erstaunlichste Busse der Theatergeschichte. Nicht, dass Herodot oder die Athener etwas gegen Tränen gehabt hätten. Als die Milesier sich einst die Haare schoren und heftig trauerten, weil die verbündete Stadt Sybaris erobert worden war, findet der Historiker das ganz in Ordnung. Die Busse für Phrynichos hat mit dem Ort zu tun, wo die Tränen flossen. Das Theater soll keine Oikeia kaka zeigen, keine familiären, nahen Unglücksfälle. Und die athenischen Tragödiendichter hielten sich in der Folge daran. Sie nahmen ihre Stoffe aus dem zeitlich weit zurückliegenden Mythos; statt Fakten brachten sie Fiktionen auf die Bühne.

Warum das? Moderne Historiker sehen einen handfesten Grund: Bald schon habe sich Athens Aussenpolitik geändert, nicht mehr die Perser, die Barbaren, waren der Feind, sondern andere Griechen. Und diese innerfamiliären, nationalen Streitigkeiten seien kein passender Stoff für das Theater gewesen. Eine Frage der Political Correctness also. Das tönt plausibel, greift aber zu kurz, wie die Historikerin Nicole Loraux in ihrem Buch "La voix endeuillée" (Ed. Gallimard, 1999) klar macht. Die Tragödie war nicht einfach eine politische Sonntagsschule. Die Distanz, die sie mit den alten Geschichten markiert, gehört zu ihrem Kern. Schrecken und Mitleid, diese heftigen Gefühle, welche die Tragödie gemäss dem Philosophen Aristoteles bewirken soll, sind nicht billig zu haben.

Eine der grossartigsten Szenen der Weltliteratur macht das anschaulich. Sie steht in der Tragödie "Aias" des Sophokles (ca. 450 v. Chr.). Noch so eine merkwürdige Geschichte. Die Griechen belagern Troia, Achill, ihr grösster Held, ist gefallen, Aias und Odysseus streiten um seine Waffen, der beredte Odysseus gewinnt, Aias rast. Mit dem Schwert will er sich auf die griechischen Feldherren stürzen, doch die Göttin Athene schlägt seine Augen mit Wahnsinn - statt der Landsleute metzelt Aias eine Viehherde.

Anderntags, und damit beginnt das Stück des Sophokles, will Athene ihrem Schützling Odysseus den wahnsinnigen Aias vorführen. Odysseus wehrt ab, er, der Held, hat Angst vor dem Rasenden, der Mensch und Tier nicht mehr unterscheiden kann. Die Göttin beruhigt, sie werde schon aufpassen, und versucht, Odysseus mit Trivialpsychologie aufzumuntern: "Gibt es einen grösseren Spass, als über einen Feind zu lachen?" Aias kommt. Doch Odysseus mag nicht lachen, als er den entwürdigten Heroen sieht. "Ich habe Mitleid mit ihm, obwohl er mein Feind ist", stellt Odysseus überrascht fest. Mehr noch: "Ich sehe in ihm sein Geschick so gut wie meines. Ich sehe, dass wir nur ein Schein sind, so lange wir leben, ein flüchtiger Schatten."

Ungeheures passiert da. Eben noch waren sie Todfeinde. Jetzt, aus sicherer Entfernung, wie ein Theaterzuschauer, kann Odysseus im verrückten, fremd gewordenen Aias sich selbst erblicken. Aias ist verblendet, Odysseus sieht neu. Aller Glanz, alle adlige Macht und Ehre sind auch von ihm abgefallen - so hat er sich noch nie gesehen. Eine extreme Erfahrung. Es braucht die Distanz dazu. Die Tränen des Publikums über den "Fall Milets" waren unmittelbar, distanzlos; das Mitleid des Odysseus, das erschrockene Erkennen des Eigenen im Anderen, setzt einen Weg voraus.

Es ist diese Distanz, die den Ideologen der Spasskultur die Hochkultur so verhasst macht. Verlangt werden Helden zum Anfassen, Politiker mit Witz-Potenzial, Reality-Shows mit nasenbohrenden Normalos. Reicht das auf Dauer? Vielleicht braucht es die totgesagte Hochkultur auch im neuen Jahrtausend noch.

 


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