Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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NZZ Feuilleton Samstag, 26.08.2000 Nr.198

 

Ein «Wasservogel auf den Fluten der Gelehrsamkeit»

Friedrich Nietzsche in der Altertumswissenschaft

Von Barbara von Reibnitz

«Die Geschichte der Philologie hat keinen Ort für Nietzsche» - das hat Karl Reinhardt in seinem berühmten Vortrag «Die Klassische Philologie und das Klassische» aus dem Jahre 1941 konstatiert. Und es scheint, als sei es dabei bis heute geblieben.

Die Philosophie kann auf hundertzehn und mehr Jahre philosophischer Nietzsche-Rezeption zurückblicken, in der Germanistik ist es nicht anders, selbst die Theologiegeschichte hat eine offenkundige Rezeption des Christentumskritikers zu verzeichnen. In der Altertumswissenschaft hingegen ist die Wirkung Nietzsches schwer zu fassen. Die Tragödienforschung, die Religionswissenschaft, die antike Philosophiegeschichte - sie alle betreiben heute ihr Geschäft, wie es scheint, ohne Nietzsche. In den Autorenregistern und in den gelehrten Fussnotenapparaten der gewesenen und der derzeit gängigen Standardwerke jedenfalls sucht man seinen Namen vergeblich. Und doch: In den einschlägigen Forschungsbeiträgen der neueren Wissenschaftsgeschichte heisst es, der Einfluss Nietzsches sei beträchtlich und gar noch heute anhaltend. Wie lässt sich dieser vorderhand paradoxe Befund einer manifest nicht fassbaren und doch offenkundigen Wirkung Nietzsches in der Altertumswissenschaft erklären?

ZUKUNFTSPHILOLOGIE?

Zuerst einmal war da das Skandalon der «Geburt der Tragödie», deren Erscheinen im Jahre 1872 zu einer durchgreifenden und langfristigen Ausgrenzung Nietzsches aus der philologischen Diskussion geführt hat. «Zukunftsphilologie» - der Hohn, mit dem Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff gegen den wenig älteren Mitschüler zu Felde zog, war keineswegs nur Ausdruck jugendlich-ehrgeizigen Rivalentums, er repräsentierte durchaus die communis opinio der Fachwissen schaft. Und Wilamowitz war es denn auch, der bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zur bestimmenden Figur des altertumswissenschaftlichen Forschungsbetriebs wurde. Er organisierte (und verkörperte in seiner Person) die dem historistischen Ideal gehorchende, arbeitsteilige, auf die Erkenntnis des Altertums in seiner historischen Gesamtheit ausgerichtete Erforschung der Antike, deren gefährliche Auswüchse Nietzsche bekämpft und kritisiert hatte.

Die Zukunft der Philologie wurde unter Wilamowitz in Berlin gemacht. Hier wurden die editorischen Grossunternehmen der griechischen Inschriften, der Papyrus-Sammlungen, der Quellentexte zur Medizingeschichte, der Sammlungen der Fragmente der griechischen Historiker und der vorsokratischen Philosophen in Gang gebracht bzw. vorangetrieben. Und in der Tat, von dieser «positivistisch» arbeitenden, einem Ethos nüchterner Sachlichkeit verpflichteten Altertumswissenschaft konnte gerade das nicht im Ernst in den Blick genommen werden, was Nietzsche als seinen philologischen «Beruf» erklärt hatte: die Verbindung von Philologie und Philosophie sowie die Erneuerung und Radikalisierung des alten, an die Philologie gestellten Bildungsanspruchs.

Der von der Abwehr der Fachwissenschaft gewissermassen bestätigte antiwissenschaftliche Gestus des Tragödienbuchs darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Nietzsche hier eine an das Fach adressierte, ernst gemeinte Alternative zur historistischen Verarbeitung der antiken Tradition hatte geben wollen. Diese Alternative bestand in der konsequenten Modernisierung der an die Überlieferung zu richtenden Fragen. Nietzsches Programm lautete: Erschliessung des Altertums als Mittel zur Erziehung des modernen Menschen. Antriebsmoment war ihm nicht die Erkenntnis des Altertums «an sich», sondern die Perspektive des kritischen Vergleichs. Was leistet die Beschäftigung mit der Antike für die Erkenntnis der Moderne - darauf zielte seine Befragung der antiken Überlieferung in gegenwartskritischer Absicht.

Nietzsche wollte nicht wissen und nicht lehren, «wie es denn gewesen sei», er fragte, «wie es dazu kam» - und auch: wozu es nicht kam, was spezifisch anders war. Wozu brauchten die Griechen ihre Götter, was bedeutet es für eine Kultur, wenn sie sich die Kunst der Tragödie «leistet», wie entstehen ein Lesepublikum und eine Leseliteratur, wie ist die kulturelle Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu fassen, wie generiert sich die Geschichte der antiken Philosophie? Seine Fragen richteten sich, wenn man so will, auf eine soziopsychologische Genealogie der griechischen Kultur. Vielleicht lag (und liegt?) nicht zuletzt in der von ihm entwickelten Hermeneutik der Traditionshinterfragung der produktive Impuls seiner Arbeiten.

Es war just dieses Programm einer konsequenten Modernisierung der Antike ebenso wie die Provokation der von Nietzsche gestellten Frage nach dem «Nutzen der Historie für das Leben», gegen die sich die zeitgenössische Fachwissenschaft zu immunisieren suchte. Welche Bedro hung man hier fühlte, spricht nur allzu deutlich aus der flammenden Rede gegen den aufkommenden Nietzsche-Kult, die Hermann Diels 1902 zu Kaisers Geburtstag in der Preussischen Akademie der Wissenschaften gehalten hat.

REVOLTE DER SCHÜLER

Dass die Befürchtungen nicht unbegründet waren, zeigt die beissende Satire, die der ungarische Aristokrat Lajos Hatvany 1908 veröffentlichte. Sein fingiertes Kollegheft mit dem Titel «Die Wissenschaft des Nicht Wissenswerten» parodierte treffend und witzig die Pedanterie und Faktenhuberei des philologischen Lehrbetriebs, wie Hatvany ihn als Doktorand bei Diels und Wilamowitz in Berlin kennen gelernt hatte. Seine positiven Gegenbilder und Leitfiguren aber hiessen Friedrich Nietzsche und Jacob Burckhardt. Hatvanys ironische Polemik war ein Wetterleuchten und eine Vorbotin der durchgreifenden Umorientierung, die sich in der Generation der Schüler von Usener, Diels und Wilamowitz vollzog. Diese Umorientierung fiel nicht zufällig in die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, in denen Krisenbewusstsein, Sinnverlust und Erneuerungs sehnsucht auch die letzten Bastionen des intellektuellen Bürgertums nicht mehr verschonten.

Mit den Namen Paul Friedländer, Karl Rein hardt, Werner Jaeger, Wolfgang Schadewaldt und Walter F. Otto verbindet sich eine neue «Schule» der Antikeninterpretation, die ihre Abwendung von Textkritik, Paläographie, Papyrologie und Epigraphik hin zu «gestalthafter» Anschauung des Altertums in wesentlichen Stücken der Anregung Nietzsches verdankte. Zu nennen wären auch Wilhelm Nestle, Walter Kranz und manche andere mehr. Die Anknüpfungen, die hier vollzogen wurden, schlossen jedoch nicht oder nur sehr zweitrangig, an Nietzsches philologische Thesen als solche an. Was jetzt wirksam wurde, war vor allem der kultur- und historismuskritische Umwertungsimpuls, der sich mit dem Philosophen Nietzsche verband.

Dieser Umwertungsimpuls hatte inzwischen bereits das gesamte Spektrum der kulturellen Öffentlichkeit erreicht. Von hier aus wirkte er zurück ins Fach - eher als verdeckte Übernahme und vage Anknüpfung allerdings denn als direkte, gar «intertextuell» fassbare Rezeption. Solchermassen «im Zeichen Nietzsches» begann die «Arbeit am Mythos», die Hinwendung zu den Vorsokratikern und die Konstitution der «Archaik» als geistesgeschichtlicher Epoche. Man machte Ernst mit der Interpretation der attischen Tragödie als religionsgeschichtlicher, ästhetischer und politischer Erscheinung, man entdeckte die «chthonische» Religion als die religiöse «Unterwelt» der olympischen und wie die Adaptationen des von Nietzsche so wirkungsmächtig konstruierten Antagonismus zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen alle heissen mögen.

DESIDERATA

Auch der bildungsreformerische Impuls Nietzsches wurde jetzt aufgegriffen. Für Philologen, die zeitgemäss «unzeitgemäss» sein und das Fach dem kritischen Zeitgeist adaptieren wollten, war der Name «Nietzsche» eine opportune Verknüp fung. Wie selektiv und missverständlich solche Bezugnahmen sein konnten, zeigt beispielhaft etwa Werner Jaeger, der - mit Nietzsche gegen Oswald Spengler - die transhistorische Bedeutung der Antike als sogenannten «dritten Humanismus» zu sichern suchte. Den methodisch-kritischen Ansatz Nietzsches, seine auf ihre legitimatorische Funktion gerichtete Hinterfragung der Leitbegriffe «Humanismus», «Klassik» und «Bildung» vollzog Jaeger ebenso wenig mit wie Nietzsches christentumskritische Wendung. So hat die Generation der Wilamowitz-Schüler zwar die Tabuisierung Nietzsches beendet und den Wahrnehmungshorizont des Fachs geöffnet. Aber sie hat keine spezifisch-philologische Nietzsche- Rezeption in Gang gebracht. Sie hat vielmehr auf ihre Weise die Entkoppelung von Philologie und Philosophie bestätigt, die Nietzsche selbst in seinen späteren Jahren vollzogen hat.

Unter den Wilamowitz-Schülern war es wohl Karl Reinhardt, der sich am intensivsten mit Nietzsche auseinandergesetzt hat. In seinem Vortrag «Nietzsche und die Geschichte» aus dem Jahre 1927 lehnte er eine Anknüpfung an Nietzsches philologische Thesen zwar ausdrücklich ab: Sie waren ihm dazumal bereits «antiquiert». Nietzsches Historismuskritik hingegen, ebenso wie seine Kritik am klassizistisch abgeleiteten Humanismusbegriff, hat er unterschrieben. Der Ironiker, der dem Rätselhaften zugeneigte und es oft erst als solches ins Licht stellende, der zum Fragen begabte Reinhardt hat Grenze und Motivation seines Interesses an Nietzsche klar bezeichnet: «Wer seine Belehrungen aus Nietzsche schöpfen will, bleibt in der Wissenschaft ein Dilettant. Aber Erforschung ist nicht zu verwechseln mit Erschliessung.» Nietzsche, der «Wasservogel auf den Fluten der Gelehrsamkeit», blieb ihm «einer der rätselhaftesten Erschliesser der Geschichte».

Bleibt er es auch für das Fach? Eine systematische und kritische Aufarbeitung der Wirkung Nietzsches in der Altertumswissenschaft ist erst noch zu leisten. Sie hätte zu fragen nicht nur nach den produktiven Impulsen, sondern müsste auch die «falschen Spuren» verdeutlichen, die Nietzsches Antikeninterpretation gelegt hat: die Fortführung, ja Verengung der philhellenischen Perspektive etwa, die Ausgrenzung bzw. Abwertung Roms wie auch des gesamten orientalischen Kulturzusammenhangs, die Front gegen Judentum und Christentum, die Negativierung der rationalisierenden, aufklärerischen Leistungen antiker Politik und Philosophie. Sie könnte zugleich, als Reflexion auf die Zeitgebundenheit fachinterner Rezeptionsprozesse, ein Stück kritischer Wissenschaftsgeschichte bieten.

 


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