Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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NZZ Feuilleton Samstag, 26.08.2000 Nr.198
Die grausame Wiederkehr des Dionysos
Friedrich Nietzsche liest Euripides - und antizipiert sein eigenes Geschick
Von Ludger Lütkehaus
Nietzsche hat Euripides nicht nur gelesen; es scheint, als habe er - auf seinem Weg in den Wahn - die Tragödie der «Bakchen» gelebt. - Ein Deutungsversuch aus Anlass seines 100. Todestages.
Euripides' späte Tragödie «Die Bakchen», postum im Jahr 405 u. Z. in Athen uraufgeführt, hat die Interpreten seit je erschreckt und fasziniert. Das Werk ist eines der grausamsten der Weltliteratur, «Theater der Grausamkeit» im eminenten Sinne. Pentheus, der König von Theben, wird von seiner Mutter Agaue im mänadischen dionysischen Wahn buchstäblich zerrissen: ein Muttermord; Genitivus subjectivus, kein Mord an der Mutter, wie der Begriff «Muttermord» üblicherweise verstanden wird. Zugleich wurde das Werk als religiöses Drama verstanden, mit dem der ehemalige Aufklärer, der gottlose Sophist, der religionskritische Entlarvungspsychologe Euripides in der Rolle des Reveriten in den Schoss der Tradition zurückzukehren schien. Die blutige Ermordung in den «Bakchen» ist göttliche Strafe und Rache: an dem gottlosen Aufklärer Pentheus, der sich dem altneuen Kult des Gottes Dionysos verweigert. Die Tragödie ist gleichsam der Altar, auf dem der Gott die Menschen opfert.
2300 Jahre später liest ein schon berühmter junger klassischer Philologe, der sich in einen Philosophen verwandelt und immer in gewissem Sinne ein Theologe bleibt, das Werk des Euripides. Es ist Friedrich Nietzsche. Bei ihm findet die intensivste Euripides-Rezeption der Neuzeit statt. Mit den «Bakchen» hat er sich am eingehendsten befasst. Sowohl für sein Werk wie für seine Biographie gewinnt die Tragödie grösste Bedeutung. Er ist der Gottesjäger und Gottesmörder der Moderne. Aber er ist auch derjenige, der den Dionysos als den uralten und zugleich «neuen» Gott wiederbringen will. Das ist seine Antwort auf seine Klage: «Zweitausend Jahre und kein neuer Gott!» Nicht der Übermensch, nicht der Wille zur Macht, nicht der «Amor fati», nicht die «Ewige Wiederkehr» - Dionysos ist die Konstante seines so vielschichtigen, so zerrissenen Werkes. Auf dem Altar des Dionysos wird er selber sowohl zum Opferpriester wie zum Opfertier.
GEBURT DER TRAGÖDIE
An ihm wird zwar kein frommer Muttermord vollzogen: 2000 Jahre Christentum haben ihre Zivilisierungsarbeit getan. Die Liebe hat ein allzu offensichtliches, blutiges Theater der Grausamkeit von der Bühne verbannt. Aber in den Seelen geht die alte Tragödie weiter, zumal wenn die Mutter- und Sohnesliebe die Liebe zu Gott obligatorisch mit umfasst. So kann auch Nietzsches umgetriebenes, nomadisches, gespaltenes Leben - seine Flucht in eine auseinander brechende Innerlichkeit und sein schliessliches Zerreissen im Wahn - im Zeichen der Agaue, des Pentheus und des Dionysos, der heiligen trinitarischen Familie von Mutter, Sohn und Gott stehen.
In der «Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik» leitet Nietzsche die griechische Tragödie aus der Verbindung des hellenischen Apollon mit dem asiatischen Dionysos ab. Das Apollinische steht für die fest umrissene individuelle Gestalt, mit dem Begriff Schopenhauers gesagt, dessen Jünger Nietzsche um diese Zeit noch ist: für das Prinzip der Individuation. Das Dionysische aber hebt im unbewussten Rausch, in dem des Weines oder auch des Blutrauschs, das Individuationsprinzip auf. Das Dionysische ist keine Distanzierungs-, sondern eine Vereinigungsmacht. Es schlingt die Individuen in die Alleinheit zurück, in einen Grund jenseits der «vereinzelt Einzelnen», einen als «Mutterschooss», «Schooss des Ur-Einen» gefassten Grund.
Unter dem Namen «Zagreus» ist Dionysos der Zerstückelte, der Zerrissene: Die Individuation ist nach Nietzsche «die Marter des Gottes». Sind die Individuen als solche die Menschwerdung der Distanz, so die tragischen Individuen die «Menschwerdung der Dissonanz». Die tragische Katastrophe aber führt die Wiedergeburt des Dionysos als das «Ende der Individuation» herbei. Demeter, die grosse Mutter, in den «Bakchen» mythologisch als Gottesmutter präsent, kann den Dionysos-Knaben «noch einmal gebären», in Nietzsches Deutung: das grosse Wiedervereinigungsfest feiern.
Euripides aber und seine Entsprechung in der Philosophie: Sokrates spielen in diesem Zusammenhang für Nietzsche eine ganz und gar ambivalente Rolle. Einerseits werden sie für den Tod des Dionysischen in der Tragödie und damit für den Tod der Tragödie, genauer: ihren «Selbstmord» verantwortlich gemacht. Bevor Nietzsches «toller Mensch» in der «Fröhlichen Wissenschaft» verkündet: «Gott ist todt! Gott bleibt todt!», sagt er: «Ðder grosse Pan ist todtð, Ðdie Tragödie ist todt!ð». «Götterdämmerung» ist es in Griechenland. Ein vom frühen Nietzsche «naiv» gescholtener «Rationalismus», der Geist der Analyse, der Anatomie, die Bindung des Schönen (Euripides) und des Guten (Sokrates) an das Bewusstsein, kurz: die griechische Aufklärung zerreisst die stets labil gebliebene Einheit des Dionysischen und des Apollinischen. Euripides, der dezidierte «Nicht-Mystiker», der hybride dramatische Prometheus, tut selber als Tragiker das, was seine Protagonisten zeigen: Das kühle Pathos der kritischen Distanz, der «Vereinzelung», der Autonomie, verweigert sich den Mysterien der frommen Verschmelzung.
Aber da sind ja die «Bakchen». Zeigen sie nicht ein völlig anderes Bild? Nicht ganz. Vor der «Geburt der Tragödie», in der nachgelassenen Schrift «Die dionysische Weltanschauung», schreibt Nietzsche dem Euripides der «Bakchen» die «Vergeistigung der Dionysos-Feier», die «Idealisierung der Orgie», also ihre apollinische Sublimation zu. Doch dann kehrt das Verdrängte umso mächtiger wieder. Gemäss der «Geburt der Tragödie» und einer noch drastischeren Formulierung, die Nietzsche in den Nachlass verbannt hat, lässt Euripides sich gleichsam selber in der Gestalt des Pentheus, des «verständigsten Gegners» des Dionysos, «zerfleischen».
Die «Bakchen» sind für Nietzsche in Übereinstimmung mit der vorherrschenden Lesart der «Widerruf», die Tragödie der Reversion, der Anti- Euripides des Euripides. Der Muttermord am Protagonisten ist der «Selbstmord» des Dichters als Anti-Dionysiker und Aufklärer, eine Selbstopferung, die konsequenterweise im Zeichen der dionysischen Aufhebung der Individuation steht. Wie der Gott, die Mutter und der zerrissene tragische Anti-Heros auf blutige Weise zusammenfliessen, wo Milch und Honig der frommen Denkungsart verweigert wurden, so verherrlicht laut Nietzsche der Dichter «mit derselben erschreckenden Energie auf seinen eignen zerfetzten Überresten die Allmacht des Gottes» im Bild der Tragödie.
NIETZSCHE ALS DIONYSOS-JÜNGER
Nietzsche selber freilich ist in diesem Porträt nicht von Euripides zu trennen. Welchen Weg ist er als Dionysos-Jünger und Sohn einer «grossen Mutter», welchen als Pentheus gegangen?
Das Werk des frühen Nietzsche, der noch nicht gänzlich mit der familiären, der christlichen Tradition bricht, moderiert zwar das Dionysische durch das Apollinische, sympathisiert indes spürbar mit Euripides' «Widerruf». Doch schon im Nachlass dieser Zeit fragt Nietzsche sich, ob denn die angebliche Bekehrung, die «fromme» Absage an das «Vernünfteln», nicht «Ironie» sei. Ironie aber ist ein Bewusstseins-, ein Distanzphänomen, kein Kind der Verschmelzung: «Über die Geburt der Ironie aus dem Geiste der Distanz . . .»
Der mittlere Nietzsche radikalisiert das Zersetzungswerk der religionskritischen griechischen und der westeuropäischen Aufklärung bis zum Gottesmord. Doch schon im vierten und vor allem im fünften Teil der «Fröhlichen Wissenschaft» signalisiert Nietzsche, dass er Gottesmörder und zugleich wieder Gottgebärer, Religionsstifter werden will. Sein «Kind» Zarathustra ist die erste Frucht dieser neuen Gottgeburt. Danach kehrt, zunächst episodisch, dann immer stärker, kulminierend in den «Dionysos-Dithyram ben», Dionysos als der uralte «neue Gott» wieder, den er einer ganz und gar unfruchtbaren, vor allem nicht mehr gottschöpferischen Welt verkündet.
Dionysos' Beziehung zum christlichen Gott aber ist weitaus komplexer, als es die philosophische Schulweisheit will. Einerseits ist Dionysos für Nietzsche der Gott emphatischer Immanenz, eines entschlossenen Wohnens hienieden, einer strikt weltlichen Religion, die das schöpferische, das sich selbst steigernde Leben in allen seinen Formen, jenseits von Gut und Böse, in Lust, nicht zuletzt der sexuellen Lust, und in Weh bejaht. Dionysos und Antichrist fallen insofern zusammen. Dionysos ist die Chiffre für eine «unio mystica» mit dem Leben, eine vitalistische Mystik, die nun freilich nicht mehr mit der Aufhebung der Individuation verbunden ist, vielmehr im Willen zur Macht kulminiert.
Andererseits aber, auf Grund einer nie gelösten Ambivalenz, die Nietzsche zum gläubigsten aller atheistischen Philosophen, zum frommsten aller Gottesmörder macht, zeichnen sich hinter der tragischen Maske des Dionysos wieder und immer stärker die Züge des christlichen Gottessohnes ab. Vor allem die Bejahung des Leidens und die kompensatorische Neigung zu Verklärung und Wiedergeburt stiften bei Nietzsche die Verbindung von Dionysos und Crucifixus, und zwar so weitgehend, dass Nietzsche am Ende seines bewussten Lebens seine letzten Botschaften an die vernünftige Welt wahlweise mit «Dionysos» oder «Der Gekreuzigte» unterzeichnen kann. Von den «Wahnsinnszetteln» sind neun von «Dionysos», acht direkt und zum Schluss zunehmend, mehrere weitere indirekt vom «Gekreuzigten» signiert. Doch es sind auch die letzten «frohen Botschaften» eines Geistes, der über seinen Leiden zerbricht - des ans Kreuz des Lebens geschlagenen Menschensohnes.
In Nietzsches Weg in den Wahn aber lebt die Tragödie der «Bakchen» fort. Nicht dass etwa Nietzsches Mutter ihren Pentheus just dem Dionysos geopfert hätte. Nein, dionysisch im exzessiven «wilden», im irgendwie orgiastischen Sinn war Franziska Nietzsche beileibe nicht. Am 27. März 1896 zitiert sie gegenüber Nietzsches Freund Franz Overbeck tief befriedigt die Diagnose von Nietzsches Jenaer Arzt Otto Binswanger: «(. . .) die Liebe der Mutter hat das ÐWildseinð gemildert und der Krankheit die Kraft genommen».
MUTTER UND SOHN
Aber zwischen Mutter und Sohn ereignet sich doch eine Tragödie, die den Sohn zerreisst, weil er sich mit ihr nicht im Glauben an den Gott vereinigen kann. Nietzsches eigene «Bakchen»-Tragödie beginnt damit, dass seine Mutter den «kleinen Pastor» den Manen des früh gestorbenen Vaters weiht. Erste Erschütterungen kommen, als Nietzsche den Dienst in der Rolle des Theologen quittiert.
Die Tragödie nimmt ihren Lauf mit einem schizoiden, einem zerrissenen Leben. Die Ausgeburten seines Geistes wird dieser gezähmte Pentheus und Euripides stets seiner Mutter vorenthalten, damit das Trauma einer unwiderruflichen Trennung vermieden werde. «Lass es Mutterchen, es ist von einem ganz anderen Standpunkt aus geschrieben», empfiehlt Nietzsche seine in der Tat «ganz anderen» Bücher zur Nichtlektüre. Und Franziska bekennt: «Es greifen mich derartige Sachen so an, indem es die Grundfesten unseres Glaubens erschüttert und am Ende selbst die Liebe zu einem so edlen lieben und geliebten Kinde beeinträchtigen könnte.» Seiner Mutter kann Nietzsche zwar davon schreiben, dass ihm die Selbsttötung nicht ferne gewesen sei - das weitestgehende Dokument seiner Offenheit -, von der Art seines Lebens jedoch nicht.
Die labile Balance lässt sich immerhin so weit restabilisieren, dass das schizoide Leben fortgeführt werden kann: Vollständige geistige Kommunikationslosigkeit bei weitestgehender emotionaler Abhängigkeit und fortwährender oraler Regression auf die mütterliche Versorgung sind die Symptome. Noch in Sils-Maria, wo Nietzsche seine höchsten und tiefsten Gedanken überfallen, bezieht er aus Naumburg «die Würste des Anti- Christ» nebst der nötigen wärmenden Wäsche und den obligatorischen verstrickenden Strickwaren.
In den ersten Januartagen 1889 aber wird dieses zerstückelte, schizoide Leben vollends zerrissen. Und Dionysos und der Gekreuzigte erstehen aus den fragmentierten Leichenteilen von Nietzsches Geist wieder auf. «In jener Zeit», notiert die Schwester in ihrer «Grossen Biographie», «beschrieb er auch einige Blätter mit seltsamen Phantasien, in denen sich die Sage des Dionysos- Zagreus mit der Leidensgeschichte der Evangelien und den ihm nächststehenden Persönlichkeiten (. . .) vermischten: der von seinen Feinden zerrissene Gott wandelt neu erstanden an den Ufern des Po (. . .). Seine Freunde und Nächsten sind ihm zu Feinden geworden, die ihn zerrissen haben. Diese Blätter wenden sich gegen Richard Wagner (. . .), meine Mutter und mich (. . .) krankhafter Fieberwahn.»
Mit dem Augenblick aber, wo Nietzsche «Ecce homo» sagt, ist auch die Zeit gekommen, wo die Mutter sich den zerrissenen Sohn wieder einverleiben kann. Das ist, anders als bei Euripides' Agaue, nicht blutig, nicht aggressiv zu verstehen. Sie pflegt den in die Irre Gegangenen und Heimgekehrten mit unendlicher Hingabe. Die Mutter Friedrich Nietzsches verdient Sympathie und Bewunderung. Wenn Nietzsche aber als tragikomischer Naumburger Dionysos nackt unter den wohl bekleideten Bürgern wandeln will und sein orgiastisches «Evos» herausschreit, dann unterbindet sie rigoros solche Exzesse. Und jetzt «folgt er so gut», «gefügig wie ein Kind».
Und er wird wieder fromm! «Die religiöse Stimmung», berichtet die Mutter mit kaum verhohlener Befriedigung an Overbeck, macht sich «mehr denn je geltend». Der Gottesmörder der Moderne spielt wieder die alten Choräle; und er lernt wieder beten. Mit einem Wort: Endlich hat sie den verlorenen Sohn wieder. Endlich können beide wieder zusammenkommen. Endlich hat sie ihn für sich allein. Der neue Pentheus, nur im Wahn zerrissen, aber sonst noch ganz, ist rechtzeitig zu ihr zurückgekehrt. Sie nennt das «alte Kind», ihr «altes Geschöpf», als das er seine Briefe gerne signiert hat, mit den vertrauten Koseworten: «mein Lieberchen», «mein altes Herzchen». Als neue Demeter und milchgebende «Maria lactans» bereitet sie ihm das «Fläschchen schönster Milch». Sie singt ihn in den Schlaf. Ihre frühe Vermutung, dass sie dermaleinst noch den «Kandidaten der Theologie» ins Bett bringen werde, hat sie nicht getrogen. Einträchtig vereint liegen sie beide nebeneinander schlafend auf dem Sofa.
Als Nietzsche noch bei Sinnen war, hat sein Zarathustra schon verkündet: «Dass der Schaffende selber das Kind sei, das neu geboren werde, dazu muss er auch die Gebärerin sein wollen und der Schmerz der Gebärerin.» Als er nicht mehr bei Sinnen war, hat er in seinen letzten von der Mutter aufgezeichneten Worten die altneue Einheit beschworen: «Ich liebe meine Mutter sehr (. . .). Die Mutter elegant die liebe ich sehr. Gute Augen. (. . .) Ich habe meine Mutter sehr geliebt weil sie gut ist. (. . .) Ich liebe die Mutter sehr weil ich die Mutter sehr liebe.»
Mit Formeln, die in einer tautologischen Begründung, einem symbiotischen Zirkelschluss kulminieren, wird die Mutterliebe geradezu magisch beschworen: Der Text ist sozusagen ein maternales Mantra. «Om mani padme hum. Ich liebe die Mutter sehr weil ich die Mutter sehr liebe.» So ist das Trennungstrauma endlich gebannt. So stehen sie am Schluss vor uns: der wahnsinnige Nietzsche am Arm seiner Mutter. Die Tragödie hat die zerstückelten Glieder wieder zusammengefügt, der Riss des Wahnsinns durch Nietzsches Leben vereint das zerrissene Paar.
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