Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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NZZ INLAND Samstag, 05.08.2000 Nr.180   15   61

 

Wenn Archäologen in die Luft gehen

Nur ein kleiner Teil des historischen Schatzes der Schweiz wird gehoben

Sie bereiten sich darauf vor, aus dem Himmel das zu sehen, was sich unter der Erde verbirgt. Die beiden Archäologen Patrick Nagy und Simon Vogt studieren auf dem Flugplatz Birrfeld die Landkarte, auf der sie den für heute geplanten Flug eingezeichnet haben. Die gecharterte Cessna 172 muss noch aufgetankt werden. Privatpilot Werner Unold rollt die Maschine zu den Zapfsäulen. Nagy und Vogt räumen die Alukoffer, in denen sich ihre Kameraausrüstung befindet, in den vierplätzigen Hochdecker. Bald ist das Flugzeug startklar. Der Pilot beschleunigt, das Flugzeug hebt ab und gewinnt schnell an Höhe. Schon nach wenigen Minuten weist Nagy auf einen hellen, rechteckigen Fleck in einem Getreidefeld hin: «Ein Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg.» Daneben erkennt man den Eingang, der schwarz in die Tiefe führt.

Die Entdeckung der Zeichen

Vor 80 Jahren gelang O. G. S. Crawford, dem ersten britischen «Archaeological Officer», der eigentliche Durchbruch in der Luftbildarchäologie. Seit dann erschliesst der Blick aus der Höhe den Altertumsforschern eine Welt, in die sie sonst nur durch mühsames Abtragen von Erdschichten Einblick erhielten. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts fuhren Archäologen in Ballonen über Persepolis und das Forum Romanum, doch photographierten sie damals lediglich die überirdischen Ruinen und fanden wenig Interesse an deren Umgebung. Auch als die Luftbildarchäologie im Laufe des Ersten Weltkriegs dank dem Fortschritt in der Fliegerei einen ersten Aufschwung erfuhr, konzentrierten sich die fliegenden Archäologen vor allem auf die gut sichtbaren Überreste längst vergangener Zeiten. Erst Crawford fiel auf einem seiner Routineflüge über der südenglischen Kultstätte Stonehenge auf, dass das Getreide der anliegenden Felder nicht überall den gleichen Wuchs aufwies. Die Pflanzen desselben Feldes sprossen in verschiedenen Farben. Ein geheimnisvolles Muster durchzog die Landschaft.

In der Schweiz ist die Wissenschaft der Luftbildprospektion, wie sie im Fachjargon heisst, knapp 10 Jahre alt. Nagy und Vogt sind hierzulande die ersten professionellen Luftbildarchäologen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden lediglich vereinzelt Luftaufnahmen aus archäologischem Interesse hergestellt. Die erste Photographie stammt vom legendären Piloten Walter Mittelholzer, der 1920 das römische Kastell in Pfäffikon Irgenhausen auf den Film bannte. In den zwanziger und dreissiger Jahren überflog man die Ufersiedlungen am Neuenburger- und am Genfersee. Erst als 1988 der deutsche Luftbildarchäologe Braasch den Auftrag erhielt, während seiner Flüge in Baden-Württemberg doch auch einmal ein paar Abstecher ins südliche Nachbarland zu unternehmen, und dabei das Fleckenmuster eines Feldes im zürcherischen Unterstammheim photographierte, begann man sich in der Schweiz um die Luftbildarchäologie zu kümmern. Untersuchungen bei Unterstammheim führten nämlich zur Entdeckung der Siedlung Apilinhusin, die ab dem 9. Jahrhundert am Rande des damaligen Sumpfgebietes gelegen haben muss. Bis heute hat man eine Reihe von Tonscherben, Fragmenten von Hüttenlehm und eine 700 Jahre alte Geschossspitze zutage gefördert.

In der Folge stellte 1992 die Kantonsarchäologie Zürich ein Team zusammen, dem Nagy, Vogt und die Piloten der Motorfluggruppe Zürich angehören. Flogen sie zu Beginn ausschliesslich über dem Kanton Zürich, nehmen sie nun seit letztem Jahr auch Aufträge aus anderen Kantonen an. Heute stauen sich rund 40 000 Bilder in den Räumlichkeiten der Zürcher Kantonsarchäologie. Jährlich kommen 5000 bis 6000 Bilder hinzu. Dieses Archiv bildet das photographische Gedächtnis der Schweizer Unterwelt aus der Vogelperspektive. Denn in vielen Fällen werden lediglich die Aufnahmen die Zeit überdauern.

Die Sisyphos-Arbeit

Nur wenig ist in der Schweiz so starker Veränderung unterworfen wie der Boden und dessen Untergrund. Intensive Bauaktivitäten und Land- und Forstwirtschaft pflügen die Landschaft um. Auch aus diesem Grund begann man erst vor kurzem mit den Forschungsflügen. Zuvor war man der Meinung, dass die meisten Fundstellen ohnehin bereits zerstört seien, weshalb sich Luftbildprospektionen kaum lohnen würden. In der Zwischenzeit wurde diese Annahme widerlegt. Die Rechenschaftsberichte der Archäologen erzählen von überraschenden Funden. Und jährlich komme mindestens ein archäologischer Höhepunkt hinzu, erzählt Nagy. Dieses Frühjahr habe man viel versprechende Aufnahmen in der Nähe von Rheinau gemacht.

Es kommt einer Sisyphos-Arbeit gleich, was die Archäologen tun: Während sie an einer Stelle Bauten von archäologischem Wert entdecken und dokumentieren, besteht gleichzeitig die Gefahr, dass anderswo ein Baggerführer die Überreste mittelalterlicher Dörfer auf die Halde schüttet. Nagy und Vogt sind sich bewusst, dass sie nur einen kleinen Teil des archäologischen Schatzes heben können. Doch mit der Dokumentation erledigt sich bereits ein wichtiger Teil ihrer Arbeit. Um Ausgrabungen im grossen Stil durchzuführen, fehlt sowohl das Geld wie auch die Zeit. Wenn ein Gebiet ihr Interesse weckt, haben sie die Möglichkeit, es in der betreffenden Gemeinde als archäologische Zone auszuschreiben. Wird dort gebaut, werden sie informiert und können eine Notgrabung durchführen.

Das Geheimnis der Muster

Ein möglicher Fundort liegt jetzt direkt unter der Cessna. Ein Feld ist von dunklen, runden Flecken gesprenkelt. Nagy weist den Piloten an, hier zu verbleiben. Dieser zieht das Flugzeug in eine Rechtskurve und drosselt die Geschwindigkeit. Auf konstanter Höhe fliegt der Schweizer Meister im Präzisionsfliegen Steilkreise mit einer Neigung zwischen 45 und 60 Grad. Vogt, der vorne neben dem Piloten sitzt, öffnet das Fenster, arretiert es mit einem an einer Schnur befestigten Hölzchen und macht Bilder vom fleckigen Feld. Nagy notiert sich inzwischen den genauen Fundort: «Vermutlich ein Gräberfeld.»

Der Ursprung der Muster, die sich im Feld abzeichnen, liegt in der unterschiedlichen Beschaffenheit des Untergrundes. Über Gruben wachsen die Pflanzen besser, da sich dort die Feuchtigkeit länger hält. In der Reife bleiben die Stellen, die sich über Gräbern oder anderen Vertiefungen befinden, länger grün und wachsen höher. Liegt aber eine Mauer, die zum Beispiel von einem ehemaligen römischen Haus stammt, unter einem Feld, wächst das Getreide über dem steinigen Untergrund langsamer. Dort nimmt das Getreide früher eine gelbe Farbe an als der Rest des Feldes. Der Grundriss eines Hauses ist aus der Höhe bei guten Sichtverhältnissen klar erkennbar.

Die Luftbilder dienen aber nicht nur der Dokumentation, sondern auch der genauen Eruierung von potenziellen Fundstellen. Die Bilder werden dazu in den Computer eingelesen, anschliessend entzerrt und auf die entsprechende Landkarte übertragen. Koordinaten geben die exakte Lage der Fundstellen an, die zusätzlich grafisch hervorgehoben werden. Ein derart erstellter Plan erlaubt später chirurgisch genaues Graben. Auf diese Weise fanden Nagy und Vogt vor kurzem bei Hüntwangen einen prähistorischen Scherben, ohne grossflächig den Humus abtragen zu müssen. Doch von der Photographie bis zum glücklichen Gesicht eines Archäologen, der eine soeben ausgegrabene Bronzeschnalle in den Händen hält, vergeht in der Regel viel Zeit. Erst die Kombination verschiedener Suchstrategien führt zum Ziel, wovon Luftbilder nur ein - wenn auch wichtiger - Teil sind. Daneben ergeben erst die Resultate aus Feldbegehungen, Sondierungen mit dem Bodenradar und schliesslich Grabungen ein Bild der verschütteten Geschichte der Schweiz.

Die Furcht vor Grabräubern

Der Pilot kreist nun über Eglisau. Die Archäologen photographieren hier im Auftrag der Denkmalschutzbehörde den Dorfkern und dokumentieren die Veränderungen der historischen Bausubstanz. Auch von anderen Ortschaften und Gebäuden werden Vogt und Nagy heute zu diesem Zweck Aufnahmen anfertigen. Zwischen diesen Auftragsdestinationen bleibt Zeit, um die Augen auf der Suche nach verdächtigen Spuren über die Felder wandern zu lassen. Flüge, die ausschliesslich zum Zweck der Suche nach Unbekanntem unternommen werden, finden keine statt. Das wäre zu teuer. Aber genauso oft, wie verdächtige Muster in den Feldern auftauchen, winkt Nagy ab: «Das ist Geologie.» Es braucht Wissen und einige Erfahrung, um mögliche archäologische Fundstellen von geologischen Erscheinungen zu unterscheiden. Und entdecken Nagy und Vogt ein von verheissungsvollen Flecken übersätes Feld, bleibt der genaue Fundort zunächst ein gut gehütetes Geheimnis: Die Archäologen fürchten Grabräuber.

Markus Hofmann

 

 

Bild

Luftbild aus Augst

 


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