Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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NZZ FEUILLETON Montag, 18.09.2000 Nr.217 29
Das Rascheln der Feigenblätter
Eine Ausstellung zur Verhüllung nackter Antiken in München
Merkwürdige, geradezu bedenkliche Auswüchse nahm die «Feigenblattkultur» in den Hochphasen der Sittlichkeitseiferer an. Die Rede ist von der zeitweilen in ganz Europa verbreiteten Manie, unbekleideten Figuren der Antike nachträglich einen künstlichen vegetabilen Lendenschurz zu verpassen. Man stelle sich erst einmal das Blattwerk der «Ficus carica», der Essfeige, im Detail vor: Von tief eingeschnittener, drei- bis fünflappiger Gestalt ist das Feigenblatt, streng botanisch betrachtet, zur Verdeckung von intimeren Körperpartien nur mässig geeignet.
So waren es entgegen landläufiger Meinung auch meist Attrappen in Form von Wein- oder Ahornblättern, die den antiken Skulpturen im 18. und 19. Jahrhundert angeheftet wurden. Dessen ungeachtet hielt sich im deutschsprachigen Raum die Sage vom Feigenblatt als adäquatem Schutz der hüllenlosen Statuen vor unzüchtigen Blicken hartnäckig bis zum heutigen Tag. Die biblische Schöpfungsgeschichte hat einen nicht unerheblichen Teil zum Mythos beigetragen: Adam und Eva wurden sich bekanntlich erst mit dem Sündenfall ihrer Nacktheit bewusst und verbargen aus Scham ihr Geschlecht hinter eilends zu einem Schurz zusammengesteckten Feigenblättern. Und auch die den Feigen zugeschriebene aphrodisierende Wirkung mag die Legendenbildung um die Rolle des Feigenblatts in der Kunst auf geradezu paradoxe Weise befördert haben.
Rekonstruktionen
Bedauerlich nur, dass sich so gut wie keine Originale jener nachträglich an Venus-, Adonis- oder Bacchusstatuen angebrachten Feigenblätter erhalten haben. Der meist individuell angefertigte, blecherne Blattsichtschutz ging allzu leicht verloren. Einige Museumsbesucher machten sich offenbar einen Sport daraus, die notdürftig verhüllten Skulpturen ihrer Blattdessous zu berauben. Von 1900 an war die «Feigenblattkultur» ohnehin dem Untergang geweiht. Es gab Antikensammlungen, in denen die Museumswächter von Hand noch eine Weile mehr oder minder lieblose Feigenblätter aus Papier zurechtschnitten. Nach dem Ersten Weltkrieg aber wurden die letzten noch mit falschen Feigenblättern ausgestatteten Skulpturen radikal entlaubt. Die vormaligen Dezenzgebote waren plötzlich ziemlich peinlich geworden.
Wie sie aber in natura ausgesehen haben könnten, die bronzenen, blechernen und gipsernen Applikationen an den kalten nackten Marmorkörpern der antiken Göttinnen und mythologischen Heroen, zeigt jetzt eine in vielerlei Hinsicht überraschende Ausstellung in der Münchner Glyptothek. Unter dem Titel «Das Feige(n)blatt . . .» verfolgt man teils augenzwinkernd, teils mit aufklärerischen Zielen die Geschichte der vor allem im späten 18. Jahrhundert grassierenden Zensur des Nackten in öffentlichen Kunstsammlungen. Es raschelt oft ganz ironisch im künstlich hergestellten, lichten Feigenblätterwald der Glyptothek. Und doch haben die Rekonstruktionen ihren präzisen historischen Hintergrund. Da wurde einer römischen Bildnisstatue mit einem lockeren Draht sozusagen die Tanga-Version einer Feigenblattverhüllung angepasst. Da wirkt der entschlafene Barberinische Faun dank einem grasgrünen Aluminium-Feigenblatt doch noch eine Spur lasziver als in seinem gewöhnlichen Habitus. Hier gilt, was schon Mark Twain 1867 über den auch in Florentiner Sammlungen omnipräsenten Feigenblattvirus bemerkte: «Diese Werke, die jahrhundertelang in unschuldiger Nacktheit dastanden, sind nun alle mit Feigenblättern versehen. Ja, alle. Zuvor hat vielleicht niemand ihre Nacktheit bemerkt; nun kann keiner umhin, sie zu bemerken - die Feigenblätter machen sie so auffällig.»
Die komplexe Geschichte des Feigenblatts kann in der weder von langer Hand vorbereiteten noch mit opulenten Materialien bestückten Ausstellung der Glyptothek natürlich nur angerissen werden. Ein Anstoss für weitere, sicher lohnende Recherchen ist aber nun lobenswerterweise erst einmal gegeben. Anders, als man vielleicht vermuten möchte, störten sich die frühen Christen nicht so sehr an dem Entblösstsein der antiken Götterstatuen. Weniger auf die vermeintliche anrüchige Nacktheit als auf das heidnische idolhafte Wesen der Skulpturen bezog sich der Zorn der christlichen Bilderstürmer. Kategorisch lehnte der Kirchenlehrer Origines (um 185-253 n. Chr.) jegliche Form des menschlichen Abbilds ab: «Sündigt nicht und schnitzt euch kein Gleichnis, kein Bild eines Mannes oder Weibes.» Als reinstes Teufelswerk verachteten im frühen Mittelalter die Christen insbesondere die wohlproportionierten Körper von Venusstatuen wegen ihrer angeblichen Verführungskräfte. Ein grausam verstümmelter Torso aus Trier zeigt, wie den sinnlich femininen Reizen der Heidenbilder auf immer und ewig der Garaus gemacht werden sollte. Über Jahrhunderte hinweg in nicht abreissender Folge gesteinigt und geschunden, erinnert der Torso heute an ein archaisches Idol. Die einstige Verwandtschaft zur Venus von Milo ist dem nach allen Seiten rund gehauenen Torso jedenfalls nicht mehr anzusehen.
Winckelmanns Zorn
Die Renaissance brachte eine vorübergehende Aufwertung des nackten und idealen Körpers mit sich, wenngleich antike Figuren oft im christlichen Sinne umgedeutet wurden. Doch nicht lange währte die relative ästhetische Libertinage. Über Michelangelos hüllenlose Gestalten des Jüngsten Gerichts in der Sixtina sprachen bereits kurz nach Fertigstellung des Freskos (1541) die päpstlichen Schicklichkeitshüter ihren Bann aus. Noch einmal zwanzig Jahre vergingen, bis der Michelangelo-Schüler Daniele da Volterra bestellt wurde, auf dass die «obszönen» Stellen endlich übermalt würden. Die erste veritable Feigenblattaktion grösseren Stils aber ist aus der Villa Doria Pamphili in Rom überliefert. Den jungen Prinzen Giovanni Battista Pamphili erfüllten die nackten Venusstatuen aus der väterlichen Antikensammlung mit einem solchen Graus, dass er sie 1670 von Kopf bis Fuss einkleiden liess. Aus Stuck waren die neuen Anstandskostüme. An einer römischen Kopie der Aphrodite von Knidos hat sich das wie nass wirkende, dünne Stuckgewand fast völlig erhalten.
Eine nie da gewesene Blüte der Feigenblattproduktion zog das Sinnlichkeitsverdikt der Aufklärung nach sich. Der propagierte Sieg der Vernunft und Tugend über den Eros hinterliess in den europäischen Kunstsammlungen eine Wirkung, die vor allem auch den geistigen Miturhebern nicht mehr geheuer war. Fassungslos berichtete der Antikenaficionado J. J. Winckelmann 1759 aus Rom: «Diese Woche wird man dem Apollo, dem Laokoon und den übrigen Statuen im Belvedere ein Blech vor den Schwanz hängen vermittelst eines Drahts um die Hüften: vermuthlich wird es auch an die Statuen im Campidoglio (Kapitol) kommen. Eine eselsmässigere Regierung ist kaum in Rom gewesen, wie die itzige ist.» Besonders eindrücklich ist an den zur Münchner Feigenblattschau dargebotenen Skulpturen auch der nicht mehr zu restaurierende Schaden des Verhüllungswahns abzulesen. Mal sind es Rostspuren, die die Drahtvorrichtungen in den Marmor eingefressen haben. Mal sind es tiefe Dübellöcher, die zur Fixierung des Feigenblatts in den Marmor gehauen worden sind. Noch schlimmer aber hat es eine Aphrodite aus der Villa Doria Pamphili getroffen: Zum Haftschutz des Stuckgewandes hat man ihren glatten Körper brachial mit einem Pickel aufgerauht.
Ein Exkurs in die Malerei eröffnet weitere kuriose Zensurmassnahmen an nackter Kunst. Einzig Dürer genoss im 18. Jahrhundert einen so hohen Respekt, dass man sich doch scheute, seine unbekleideten mythologischen Figuren zu übermalen. Anders als etwa im Fall eines Bildes von Lukas Cranach d. Ä. durfte Dürers Darstellung der Lucretia über die Jahrhunderte hinweg zumindest barbusig bleiben. Nur das Hüfttuch verbreiterte man etwas, so dass die Scham auch ganz bedeckt war. Und in dieser weitgehend unverfänglichen Draperie ist die gewaltsam entehrte und zum Selbstmord bereite Lukretia in der Alten Pinakothek noch heute zu bewundern.
Birgit Sonna
Laokoon mit Feigenblatt