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Tages-Anzeiger WISSEN Ausgabe vom 28.07.2000 Seite 32

 

Die Ruhe vor dem Lavastrom

Der Ausbruch des Vesuvs, der Pompeji auslöschte, verlief anders als bisher angenommen, fanden Archäologen und Geophysiker heraus.


Autor: Von Klaus Wilhelm

Im Jahre 79 nach Christus spuckte der Vesuv Feuer und Asche. Dem berühmtesten Vulkanausbruch der Geschichte fielen in der römischen Kleinstadt Pompeji 2000 Menschen zum Opfer. Der genaue Ablauf der Katastrophe war jedoch anders als bisher angenommen, meinen der Geophysiker Aldo Marturano und der Archäologe Antonio Varone. Die Wissenschaftler stellten nach Auswertung der Ergebnisse ihrer jüngsten Grabung eine neue Theorie auf: Die Phase des Vulkanausbruchs mit gigantischem Gesteinshagel, die so genannte Plinianische Phase, war kürzer, aber sehr viel heftiger als gedacht, und endete bereits am 24. August um 20 Uhr. In der Nacht pausierte die Eruption sogar zuweilen, ehe allein der Lavafluss am nächsten Morgen den Untergang Pompejis besiegelte.

Der Eruption gingen Beben voraus

Die zu drei Vierteln ausgegrabene Stadt umgibt noch immer eine besondere Aura. Einem Stadtviertel haben die Forscher nun neue Geheimnisse abgerungen, "weil wir die Expertise von Geophysik und Archäologie kombiniert haben", sagt Varone, der Chefarchäologe von Pompeji. Die freigelegte "insula dei casti amanti", das Viertel des keuschen Liebespaares, ist nach einem Fresko benannt, das im Wohnzimmer eines Hauses hängt. Der damalige Inhaber war ein Bäcker, dessen Betrieb erstaunlich gross war. Das schliessen die Forscher aus den Skeletten von sechs Eseln und einem Maultier, die neben der Backstube gefunden wurden. Die Tiere hatten die Mühle angetrieben. Den ersten Beweis für ein Erdbeben kurz vor dem Vulkanausbruch, sieht Varone in frisch ausgehobenem Erdreich, das neben Abwassergräben gefunden wurde. Beste Erklärung: Bei einem Beben stürzten die Wände der Gräben ein und verstopften diese. Arbeiter waren dabei, den Schaden zu beheben. Auch Reparaturarbeiten an Fresken belegen, dass nicht die Schäden des grossen Erdbebens von 62 behoben wurden, wie immer behauptet wird.

Im westlichen Teil der Ausgrabungsstätte haben die Forscher die Gesteinsschichten des Vulkanauswurfs freigelegt. Sie liegen aufeinander gestapelt wie bei einem Sandwich und sind chemisch unterschiedlich zusammengesetzt und verschieden strukturiert. Selten wurde in Pompeji eine so gut zu deutende Schichtabfolge gefunden, die zunächst Aufschluss über die unglaublich explosive Plinianische Phase der Eruption gibt: Binnen Stunden stiegen durch einen Gang im Vulkan einige Kubikkilometer Magma auf. Die entweichenden Gase rissen glühende Lavafetzen und Felsbrocken aus der Kraterwand mit. Das Material schoss mit bis zu mehreren Hundert Meter pro Sekunde empor und formte eine säulenartige Wolke.

Zimmer angefüllt mit Lava

Die schweren, Bomben genannten Brocken mit bis zu zwei Meter Durchmesser und kieselgrosses Lavagestein gingen in der Nähe nieder. Im Haus der keuschen Liebenden hat der Auswurf zwei fast zweieinhalb Meter hohe Schichten abgelagert - unten weiss, oben grau. In die Oberfläche der grauen Schicht sind Aschepartikel eingestreut. "Sie kennzeichnen das Ende der Plinianischen Phase", beschreibt Marturano. "Der Steinhagel begann gegen 13 Uhr und hat schon gegen 19 bis 20 Uhr aufgehört und nicht am Morgen des 25. August." Denn einige der oberen Schichten seien, so die neuen Ergebnisse, "eindeutig Sedimente von späterem Lavafluss".

Der entscheidende Beweis, dass am Morgen des 25. August schwere Beben stattfanden, ist eine Mauer, die statt auf den Boden auf eine Lavaschicht gestürzt war. Die Beben kündigten von einer neuen Phase der Eruption und entstanden, als Magma und wasserhaltiges Gestein miteinander reagierten, also die so genannte hydromagmatische Phase mit Lavafluss begann. Im Haus des züchtigen Liebespaares stürzte dabei der obere Teil der neun Meter langen Mauer mit Wucht in ein Zimmer, erklärt Varone. "Die Art des Falls kann nur ein Erdstoss verursacht haben." Zu dem Zeitpunkt war das Zimmer bereits mit Lava angefüllt.

Diese Lava unterscheidet sich vom Auswurf der Plinianischen Phase. Die darin gefundenen Erbsensteine, die durch das Zusammenkleben feuchter Asche entstehen, sind charakteristisch für die hydromagmatische Phase. Die Forscher haben sie nur oberhalb der Plinianischen Schichten entdeckt - ein Beleg für ein frühes Ende des Gesteinshagels. Über den Erbsensteinen wiederum liegen Schichten von Lavaflüssen, die von sechs verschiedenen Eruptionen herrühren. Diese Lavaströme trafen um etwa sechs Uhr am 25. August ein. Der erste Lavastrom hatte seine Wucht unterwegs verloren. In einer Pause zwischen den Ausbrüchen bildete sich Asche und setzte sich auf dem Sediment des ersten Lavastroms ab. Im Glauben scheinbarer Ruhe flohen viele Pompejianer. "Doch es gab kein Entrinnen mehr", sagt Varone. "Der zweite Lavastrom war der Killer", erklärt Marturano. Die Flüchtenden verbrannten oder erstickten durch eine schwefelige Giftgaswolke, die heisse Asche mitführte. Ein dritter Strom quoll über die Stadtmauer, riss Dächer mit, drückte Häuserfronten ein und verschüttete den ganzen Ort.

Gesteinshagel war dreimal heftiger

Bisherigen Daten gemäss sollte diese Schicht auch aus dem Plinianischen Hagel stammen, also auf die Stadt geregnet sein. Dann aber müsste sie gleichmässig unter der umgefallenen Mauer verteilt sein. Doch dem ist nicht so. Mitten unter der Wand wird die Schicht immer dünner, bis sie völlig aufhört. Einzige Erklärung: Als die Mauer fiel, ist die Lava von Westen her nur teilweise unter sie geflossen. "Die dritte Schicht stammt also eindeutig aus einem Lavastrom und nicht aus Plinianischem Hagel", folgert Marturano. Dreimal kürzer als angenommen war die Plinianische Phase und damit dreimal stärker als gedacht. Mit 80 Stundenkilometern raste die Lawine durch die Stadt. Zwei Skelette in der Gasse neben dem Haus zeugen von dieser Gewalt. Die Leichen der zuvor in der giftigen Aschenwolke erstickten Menschen wurden stark verstümmelt. Drei weitere Skelette lagen im Haus. Diese Menschen hatten die Tür versperrt und die Fenster abgedichtet. Doch der dritten Lavawelle hielt nichts mehr stand - sie strömte von oben in die Häuser ein. Gegen acht Uhr morgens am 25. August war Pompeji tot.

Die Verwaltung der Ausgrabungsstelle will die Häuser im Viertel des züchtigen Liebespaares 2001 für die Besucher freigeben, die damit erstmals einen plastischen Eindruck vom genauen Ablauf der pompejianischen Katastrophe bekommen. Denn die wichtigen geologischen Profile der einzelnen vulkanischen Ablagerungen sollen ausgestellt werden. Zudem werden auch die herabgestürzten Gebäudeteile, fixiert durch spezielle Aufhängevorrichtungen, zu sehen sein.

 

 

 


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