Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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Tages-Anzeiger AUSLAND 14.11.2000
Zeugma ist im Wassergrab versunken
Die Ausgrabungsstätte der 2300 Jahre alten Römerstadt Zeugma in der Türkei ist im Birecik-Stausee untergegangen. Nur ein winziger Teil der Schätze wurde gerettet.
Von Helmut Stalder, Gaziantep
"Dort drüben haben wir die Mosaike gefunden", sagt Kemal Sertok, Leiter der Ausgrabungen in Zeugma und Direktor des Museums in der südostanatolischen Provinzhauptstadt Gaziantep. Seine Hand weist auf die Wasserfläche des neuen Birecik-Stausees am Euphrat - und zu sehen ist nichts. Mitte Juni hatte das Wasser die Römervillen der untersten Ausgrabungszone erreicht. Mehr als 100 Archäologen, Konservatoren und Spezialisten aus der Türkei, Frankreich, England und Italien versuchten danach in einer Notgrabung zu retten, was zu retten war, während das Wasser stieg, Zentimeter für Zentimeter. Jetzt ragen nur noch Mauern der obersten Grabungszone aus der Flut, auch sie werden in wenigen Tagen versinken. Die Archäologen haben das Gebiet aufgegeben.
Kein Geld für Archäologie
Die Gegend des Birecik-Sees war einst Heimat einiger der grössten Zivilisationen der Welt. Assyrer, Perser, Kommagener, Römer, Abbasiden, Byzantiner, Seldschuken siedelten hier. Und den Fachleuten war lange vor Beginn des Dammbaus 1993 klar, dass Zeugma eine wichtige archäologische Stätte sein musste. Aber die türkische Regierung hatte keine Eile, den Fundort systematisch zu untersuchen.
Einerseits, um den Bau nicht zu verzögern: Der Birecik ist einer von 22 Dämmen, die die Türkei im Zug des Südostanatolien-Projekts (GAP) bis 2010 an Euphrat und Tigris bauen will. Die Stauseen sollen ein Viertel der türkischen Stromproduktion sichern und 17 600 km2 Ödland fruchtbar machen (TA vom 3. November).
Andererseits fehlt das Geld. "Die Türkei hat über 1000 bekannte Stätten. Sie alle auszugraben, könnte sich selbst die Schweiz nicht leisten", sagt Alpay Pasinli vom Kulturministerium. Nur zwei Prozent des staatlichen Budgets erhalte sein Ministerium, und Einfluss habe es kaum. "Wir wissen, dass die Kulturschätze nicht der Türkei allein gehören, sondern der ganzen Menschheit. Dann sollen aber auch alle mithelfen." Zumal es sich wie bei Zeugma oft nicht um islamische Stätten, sondern um abendländische handelt. Bei der ersten Grabung 1992 kam in Zeugma eine Villa mit einem fast unversehrten Dionysos-Mosaik zum Vorschein, später sechs weitere reich geschmückte Villen. Ein Symposium 1994 erregte international kaum Interesse, erinnert sich Sertok. Erst 1996 intensivierte sich die Suche, als ein französisches Archäologenteam zugelassen wurde. Weitere Funde machten restlos klar, dass Zeugma eine Stätte ersten Ranges ist. 1000 m2 Mosaike, etliche Fresken und unzählige Artefakte konnten bis im Mai geborgen werden, bevor das Wasser kam, darunter eine 1,5 Meter hohe Mars-Statue erster Güte. Das Museum Gaziantep ist zu klein - vieles, was die Fachwelt begeistern würde, liegt im Garten aufgebahrt.
Zeugma (altgriechisch für "Übergang", "Passage") war von Seleucus I. Nicator, einem General Alexanders des Grossen, im dritten Jahrhundert v. Chr. gegründet worden, dort, wo sich die erste Brücke über den Euphrat bauen liess. Zehntausende von Münzen und Siegeln belegen, dass es sich zu einem der bedeutendsten Handels- und Verwaltungszentren des Reiches entwickelte. Zur Blütezeit lebten hier rund 60 000 Menschen, und 6000 Mann der IV. "skythischen" Legion waren hier stationiert. 252 n. Chr. wurde Zeugma von den Sassaniden niedergebrannt. Von der Flucht zeugen 3750 zurückgelassene Silbermünzen, die die Forscher fanden. Später begrub ein Erdbeben die Stadt.
Das türkische Pompeji
Begeistert sind die Forscher von den sehr gut erhaltenen Mosaiken, die fast alle Böden der auf einem Kilometer Länge angeordneten Villen bedecken. Allein bei der Notgrabung von Juni bis Oktober fanden sie 45 Mosaike, 22 davon fast unversehrt. "Ein türkisches Pompeji", sagen die Experten. Geborgen wurden bei der Notgrabung aber nur drei zusätzliche Mosaike. Die andern wurden dokumentiert, mit Mörtel überzogen und dem See überlassen. "Sie sind nicht zerstört, nur nicht zugänglich - wie vorher für 1700 Jahre", sagt Kristian Schneider vom italienischen Team. Wenn der Stausee in 100 Jahren ausgedient habe, könnten spätere Forscher sie bergen. Im Übrigen seien nur 700 der auf 2000 Hektaren geschätzten Siedlung überflutet.
Archäologen geben sich loyal
Den Archäologen sei es nicht darum gegangen, möglichst viele Schätze ins Museum zu tragen, erklärt Rob Early von der englischen Equipe. Ziel war es, Informationen zu sammeln, um die Bedeutung von Zeugma und das Leben der Bewohner zu verstehen. "Was wir haben, ist ausserordentlich - eine repräsentative Sammlung. Das ist ein extremer Erfolg."
Gegenüber dem Damm-Projekt sind die ausländischen Forscher eigenartig kritiklos. Kein bitteres Wort darüber, dass Zeugma zu spät freigegeben wurde. Kein Vorwurf, dass die Regierung ihnen nicht mehr Zeit einräumte. Sie sind froh über die Funde, und ihre Zurückhaltung rührt wohl auch daher, dass sie zu den wenigen Privilegierten gehören, die von der Türkei Grabungslizenzen bekamen. In den nächsten Monaten werden sie ihre Daten auswerten, ihre Studien publizieren und akademische Würdigungen empfangen.
Eine Frage der Prioritäten
Auch für Pasinli vom Kulturministerium sind die Grabungen ein Erfolg. Nur der Vergleich Zeugmas mit Pompeji behagt ihm nicht: "Auch andernorts gibt es Einmaliges. Eine Frage der Prioritäten." Die von Dämmen bedrohten Stätten seien jedenfalls die "glücklicheren". Andere müssten noch Jahrzehnte warten, bis sich jemand interessiere. Numan Tuna, der das Ilisu-Gebiet untersucht, macht allerdings deutlich, dass das türkische Interesse prinzipiell begrenzt ist: "Der archäologische Schutz darf der sozioökonomischen Entwicklung nicht im Weg stehen", formuliert er die offizielle Haltung. Man gehe mit Kulturgütern nicht sorglos um, aber die Regierung müsse primär für die heutigen Menschen sorgen.
Das Grabungsfeld Zeugma liegt verlassen. Am Horizont wölbt sich der Damm. Gewaltig triumphiert die Gegenwart.
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Historisches Erbe vor dem Ende
Ankara. - Am Hauptlauf des Euphrats sind alle geplanten Dämme des Südostanatolien-Projekts gebaut, am Tigris ist das Projekt weniger weit fortgeschritten. International besonders umstritten ist der Ilisu-Damm, der zweitgrösste der Türkei. Wird er wie geplant bis 2007 gebaut, versinken nicht nur 67 Siedlungen mit mehreren Zehntausend Einwohnern. Überflutet werden auch 30 archäologische Stätten und ein Teil der historischen Stadt Hasankeyf.
Transfer von Kulturgütern
Hasankeyfs Wurzeln reichen ins 7. Jahrhundert v. Chr. Es war Treffpunkt der mesopotamischen, innerasiatischen, römischen und byzantinischen Kulturen und dank einer mächtigen Steinbrücke eine wichtige Etappe der Seidenstrasse. Ihre Pfeiler und viele Bauten aus der Blütezeit im 13. Jahrhundert blieben erhalten. Hasankeyf gilt als wichtigste Stätte der Region und steht unter Denkmalschutz.
Der bedeutendste Teil bleibt über dem Wasser, insbesondere die Zitadelle. Die unteren Teile der Stadt würden derzeit dokumentiert, sagt der Archäologe Numan Tuna, der das Ilisu-Gebiet untersucht. Danach werde entschieden, welche Kulturgüter und Bauwerke abtransportiert würden.
Kritische Komitees und Vereinigungen zur Rettung Hasankeyfs stiessen in Ankara bisher auf taube Ohren. Wenig Aussicht hat auch der jüngste Vorschlag türkischer Experten, auf Ilisu zu verzichten und stattdessen Wasser des Dicle-Stausees am Oberlauf in Rohre zu leiten und zu nutzen.
Schweizer Firmen beteiligt
Die Schweiz ist stark im Ilisu-Projekt involviert: Die UBS organisiert die Finanzierung. ABB Alstom Power liefert Generatoren und Anlagen, Sulzer Hydro (von der österreichischen VA Tech übernommen) die Turbinen. Der Bundesrat wird voraussichtlich bis Ende Jahr definitiv über eine Exportrisikogarantie entscheiden. (st)
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