Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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KZU


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NZZ ZEITFRAGEN Samstag, 08.07.2000 Nr.157   87

 

Ägyptomanie

Als der griechische Historiker Diodor, der aus Sizilien stammte, Material für seine 40-bändige, monumentale Weltgeschichte «Bibliotheca Historica» sammelte, bereiste er um 60 v. Chr. auch Ägypten. Er kehrte aus dem Land der Pharaonen mit der Überzeugung zurück, hier den Ursprung der Götter gefunden zu haben, die Quellen des Numinosen. Die Ahnung unendlicher zeitlicher Dimensionen, die Sichtbarkeit, die Greifbarkeit einer mehrtausendjährigen kulturellen Tradition entfalteten offenkundig schon damals eine fast magische Wirkung; sie machten aus diesem Land das bevorzugte Reiseziel all jener, die sich auf die Suche nach den Anfängen, nach den ersten Zeugnissen menschlicher Existenz begeben.

Dies war schon in der Antike so, und daran änderte sich auch in den folgenden 2000 Jahren nichts, wie sich der kunstvoll gedrechselten Notiz eines andern prominenten Ägyptenfahrers ablesen lässt. Es war Thomas Mann, der 1930 ins Gästebuch des Hotels Winter Palace in Luxor schrieb: «In den Märchen gibt es, Sonntagskindern erreichbar, Zauberwiesen auf dem Grunde tiefer Brunnenschächte. Solch ein Brunnenschacht ist die menschliche Vergangenheit, und solch eine Zauberwiese ist dies Land: durch die Jahrtausende tief hinabversetzt, wandelt man hier in einem andern Lichte auf dem Grunde des Vergangenen, unter den heiligen Malen menschlich-kulturellen Anbeginns.»

Schon zu Zeiten Diodors hatte sich der Glaube an eine spezifische ägyptische Weisheit, die ihre Deutungsmacht dieser Nähe zu allen Anfängen verdankt, unter den Völkern verbreitet. Es spielte dabei keine Rolle, dass sich dieses Ägyptenbild, das sich im Laufe der Jahrhunderte kontinuierlich weiter entwickelte, zunehmend von den historischen Realitäten entfernen sollte. Vielmehr entfaltete gerade dieses mythische, dieses esoterische Ägypten eine unerhörte, wenn auch untergründige Breitenwirkung in der Kultur des Abendlandes.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Nilland dagegen setzte - vielleicht gerade deshalb - relativ spät ein. Sie war das Resultat der Expedition Napoleons von 1798, reisten doch über 100 Künstler und Gelehrte im Begleittross der napoleonischen Armee mit, welche den militärisch an sich sinnlosen Abstecher in den Nahen Osten zu einer ersten, systematischen Sammlung ägyptischer Kunst und Kultur nutzten. Ablesbar waren die Früchte dieser Anstrengung im sofortigen und manifesten Einfluss des «Ägyptischen» auf die damalige Kultur, auf die bildende Kunst, die Architektur, die Literatur Europas. Es war dies die Geburtsstunde der wissenschaftlichen Ägyptologie, die ihre Faszination letztlich aber ebenfalls aus dem bezog, was Erik Hornung die «Ägyptosophie» nennt: «die Auseinandersetzung mit einem imaginären Ägypten, das als tiefste Quelle allen Geheimwissens gilt - Ägypten als zeitlose Idee, die mit der geschichtlichen Wirklichkeit nur in einem losen Zusammenhang steht».

Und wer in der Geistesgeschichte spezifisch auch nur nach den Spuren dieser Ägyptosophie forscht, wird auf Schritt und Tritt fündig: in der Alchemie, in der Astrologie, in der Hermetik, in der Gnosis, bei den Rosenkreuzern, den Freimaurern, den Romantikern, den Theosophen und Anthroposophen. Auch in diesem Jahrhundert hat deren Wirkkraft nicht nachgelassen; ein Buch wie etwa Hermann Hesses «Morgenlandfahrt» ist gänzlich in dieser Stimmung getränkt: «Unser Morgenland war ja nicht nur ein Land und etwas Geographisches, sondern es war die Heimat und Jugend der Seele, es war das Überall und Nirgends, war das Einswerden aller Zeiten.» Überall und Nichts, Anfang und Ende: Im Land am Nil liegt diese existenzielle Erfahrung näher als anderswo.

fem.

 

 

 


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