Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

Logo

Klassische Sprachen
Latein, Griechisch
KZU


Quelle:

Antike Welt Nr 3 31. Jahrgang 2000 324


Anmerkung: Der folgende Artikel ist für Lateinlehrerinnen und -lehrer gedacht. Er bietet aber eine Menge von Überlegungen, warum man auch heute noch Lateinunterricht nehmen soll. Selbstverständlich liessen sich diese Überlegungen erweitern, z.B. in naturwissenschaftlicher Hinsicht.
Ausserdem geht der Artikel von den Verhältnissen in Deutschland aus, die hier anders sind. Der Lehrplan der KZU erfüllt die Forderungen des bayerischen Staatsministers bereits.

 

Renovatio Linguae Latinae

Latein als Kultursprache begreifen

Von Staatsminister Hans Zehetmair
Bayerisches Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst

Auch wenn diese Erkenntnis gerade für uns Altphilologen unangenehm ist: Das Fach Latein gilt heute für die gymnasiale Bildung nicht mehr als unverzichtbar. Am allgemeinen Zuwachs der Gymnasiasten partizipieren gerade die sprachlichen Zweige nicht, woraus der Schluss gezogen werden kann, dass das Gymnasium heutzutage nicht mehr so stark nach Sprachen geprägt ist und schon gar nicht nach dem Fach Latein. Den Schulen bleibt gegenwärtig nichts anderes ührig, als sich den veränderten Verhältnissen zu stellen. Doch gerade in dieser vermeintlichen Krise liegt auch die Chance für einen Neuanfang: Wir sollten Latein nicht in Konkurrenz zum Englischen sehen. Vielmehr müssen wir es heute, an der Schwelle zur Wissensgesellschaft, eher als Kulturfach begreifen. Denn als solches vereinigt Latein viele geisteswissenschaftliche Fächer in sich, angefangen von Kunst und Musik über Geschichte und Philosophie hin zur Literatur. Auch wenn das alte Sprichwort «Mit Geld, Latein und einem guten Gaul kommt man durch ganz Europa» heute nicht mehr gilt, so führt uns dieses Fach doch nach wie vor wie kein anderes an die gemeinsamen Wurzeln unserer europäischen Geistes-, Kultur- und Ideengeschichte.

Wenn wir uns von der längst obsoleten Idee verabschieden, dass alle Schüler.Latein lernen müssen, dann ergibt sich für das Fach eine neue Perspektive. So pries die Los Angeles Times im vergangenen Jahr die Vorteile des Lateinischen mit den Worten: «Latin teaches youngsters how to think not what to think.» Deutlicher formuliert heisst das, Latein vermittelt den Lernenden Denkfähigkeit. Deshalb sollte sich Latein noch stärker als «EIite-Fach» innerhalb des gymnasialen Fächerkanons positionieren. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass die Anzahl der Schülerinnen und Schüler, die in den achtjährigen Gymnasien Baden-Württembergs mit Latein beginnen, erheblich gestiegen ist. Während in den neunjährigen Gymnasien nur 4,8 Prozent der Schüler Latein als erste Fremdsprache lernen, betrug der Anteil in den achtjährigen Gymnasien im Schuljahr 1998/99 immerhin 14,8 Prozent.

In Bayern lernten im Schuljahr 1998/99 über 40 Prozent der 312'000 Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aller Jahrgangsstufen Latein. Die Ausgangsposition für die künftige Entwicklung des Faches ist also gar nicht schlecht. Wenn sich die Lehrerinnen und Lehrer, die Latein unterrichten, auf die Qualitäten ihres Faches besinnen und diese im Vergleich zu anderen Fächern noch schärfer herausarbeiten, wird es auch künftig als Kulturfach Fundamente gymnasialer Bildung in ganz unterschiedlichen Bereichen legen:

1. Durch die exakte sprachliche Analyse, die kreativen und reflektorischen Akte des Übersetzens werden im Lateinunterricht Grundformen geistiger Arbeit gefördert. In diesem Sinn ist Latein ein Fundamentalkurs «Richtiges Lernen». Dies umfasst natürlich auch neue Unterrichtsformen, die heute neben dem bewährten traditionellen Lateinunterricht zum Einsatz kommen. «Lernen durch Lehren», «handlungsorientierter Unterricht», Freiarbeit sowie der Einsatz des Computers ermöglichen auch im Fach Latein individuelle Lernprozesse bei den Schülerinnen und Schülern.

2. Der ständige, ausdrückliche Vergleich der lateinischen mit der deutschen Sprache fördert die muttersprachliche Kompetenz und erleichtert zugleich das Erlernen moderner Fremdsprachen. Latein ist also auch als Fundamentalkurs «Elementargrammatik» zu: begreifen. Auch im sprachlichen Bereich erleichtert die Distanz eine gewisse Objektivität und Sachlichkeit; sprachliche Strukturen werden in einer sich nicht mehr verändernden Sprache leichter begriffen als in einer noch gesprochenen. Gerade heute, wo nicht nur bei Jugendlichen eine zunehmende Verarmung und Verflachung der sprachlichen Fähigkeiten zu beobachten ist, kommt diesem Aspekt besondere Bedeutung zu. Der Mensch begreift die Welt vornehmlich in sprachlichen Strukturen und ist deshalb auf eine optimale Ausbildung seiner produktiven und rezeptiven linguistischen Kapazitäten angewiesen. Die Fähigkeit zur präzisen sprachlichen Artikulation bildet eine grundlegende Schlüsselqualifikation. Deshalb ist es nötiger denn je, den Schülerinnen und Schülern an Hand einer logisch aufgebauten Reflexionssprache zu verdeutlichen, wie das System Sprache funktioniert.

3. Da ein grosser Teil des Wortschatzes, den die romanischen Sprachen und das Englische übernommen haben, im Lateinunterricht vermittelt wird, gilt Latein zu Recht als Fundamentalkurs «Europäische Sprachen». Durch die Überarbeitung und Modernisierung des lateinischen Lernwortschatzes wurde in den bayerischen Latein Lehrplänen Platz geschaffen für die Einbeziehung der englischen und romanischen Ableitungen. So leistet der Lateinunterricht als eine Form des vernetzten Lernens europäische Wortschatzarbeit auf der Basis moderner Lernpsychologie. In die Lektionen heutiger lateinischer Lehrwerke werden die romanischen Tochtersprachen, aber auch das Englische in Form kleiner Versionen oder Wortschatzübungen mit einbezogen.

4. Der europäische Einigungsprozess erweist sich immer wieder als höchst kompliziert. Als Fundamentalkurs «Europäische Kultur» kann der Lateinunterricht durch die Auseinandersetzung mit bedeutenden lateinischen Texten aus den Bereichen Politik, Philosophie, Geschichtsschreibung, Recht, Naturwissenschaft, Dichtung und Religion dazu beitragen, geistesgeschichtliche Hintergründe zu erhellen, die das literarische und kulturelle Leben Europas bis in die Neuzeit entscheidend geprägt haben und noch heute prägen. Durch die eingehende Beschäftigung mit der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte dieser europäischen «Grundtexte» und durch die Auseinandersetzung mit den archäologischen und kunstgeschichtlichen Zeugnissen erfahren die Schülerinnen und Schüler an konkreten Beispielen, welchen Weg die gemeinsame geistige Entwicklung Europas genommen hat. Sie finden dadurch zu europäischer Identität und erwerben interkulturelle Kompetenz.

Bild5. Die heutige Rhetoriktheorie basiert noch immer auf der antiken, stilistisch wie philosophisch. Ciceros «perfectus orator» hatte gleichzeitig ein «Vir bonus» zu sein, der sich durch fundierte Allgemeinbildung und moralisches Verantwortungsbewusstsein auszeichnete. Horaz' Idealbild einer guten Rede, die in der Lage sein muss zu erfreuen (delectare), zu bewegen (movere) und zu belehren (docere), hat bis heute nichts von seiner Gültigkeit eingebüsst. Und Quintilians «De institutione oratoria» ist bis heute ein Standardwerk der europäischen Rhetorik. An ausgewählten lateinischen Textbeispielen erkennen die Schülerinnen und Schüler die Anwendung der rhetorischen Theorie. Die Analyse und stilistisch adäquate Übersetzung könnten in der Zukunf auch Ausgangspunkt für eigene praktische Übungen sein, sei es als Vortrag lateinischer Passagen aus einer behandelten Rede oder der erarbeiteten Übersetzung. Die Fähigkeit, den eigenen Standpunkt adressaten- und situationsgerecht zu formulieren, ist eine wichtige Schlüsselqualifikation, deren Vermittlung gerade die Wirtschaft immer wieder von der Schule fordert. Die Einsicht in die Überzeugungskraft durch Sprache stärkt zugleich die Analyse- und Kritikfähigkeit der Jugendlichen und leistet damit einen Beitrag zu ihrer politischen Mündigkeit.

 6. Orientierungshilfen, Kriterien und Massstäbe für das eigene Urteil entstehen auch durch die Thematisierung des Staatsbegriffs und des politischen Denkens der Römer, vor allem durch die mannigfachen Kontraste zu unserem heutigen politischen und sozialen System. Die Herleitung moderner politischer Begriffe wie Senat, Republik oder Konsul, um nur einige zu nennen, und die Beschäftigung mit deren historischen Vorbildern führt zu einem tieferen Verständnis politischer Strukturen. Die Auseinandersetzung mit den wichtigsten philosophischen Gedanken der griechisch-römischen Antike bietet bereits Fünfzehn- und Sechzehniährigen am Beispiel einer abgeschlossenen historischen Epoche eine fundamentale Einführung in das philosophische und politische Denken. Der inhaltliche Wandel, den römische Leitideen wie auctoritas, pietas oder familia im Laufe der Jahrhunderte erfahren haben, verdeutlicht Schülerinnen und Schülern von heute einen wesendichen Bereich der abendländischen Entwicklungsgeschichte.

BildWir befinden uns in einer politischen Situation, in der die Notwendigkeit von Eliten für die Fortentwicklung unserer Gesellschaft nicht mehr in Frage gestellt wird. Unsere Aufgabe dabei ist es, heute die Eliten von morgen auszubilden. Auch wenn sich die Lateinlehrer dagegen wehren, ihr Fach als elitäres Selektionsfach zu bezeichnen - der Lateinunterricht ist ein anspruchsvolles Denktraining mit einem hohen Abstraktionsgrad. Deshalb hat Latein nach wie vor seinen wichtigen Platz im gymnasialen Fächerkanon und eignet sich gerade als erste Fremdsprache am Gymnasium hervorragend. Entwicklungspsychologen haben bestätigt, dass sich der Übergang vom konkreten zum formalen Denken bei den meisten Kindern im Alter von elf oder zwölf Jahren vollzieht. Sie werden vom Lateinunterricht deshalb nicht überfordert, sondern lernen in einem methodischen Fach das Lernen, bevor sie die Pubertät erreichen. Gründlichkeit, Ausdauer, Blick für Zusammenhänge und Genauigkeit im Detail sind die erwünschten Ergebnisse einer Texterschliessungsstrategie, die im Lateinunterricht geübt wird. Sie kommen allen Lateinschülerinnen und -schülern zugute, ganz gleich, ob sie ihre Lateinkenntnisse später für Studium oder Beruf benötigen oder nicht.

Wir wissen, dass der altsprachliche Unterricht die Schülerinnen und Schüler prägt. Die dort gewonnenen Fähigkeiten und Techniken lassen später auf dem Arbeitsmarkt diejenigen aus der Masse der Mitbewerber heraustreten, die dank ihres Kulturwissens einen weiteren Horizont besitzen und zu origineller Problemlösung und eigenständigem Denken fähig sind. Das Lateinische fördert das heute zu Recht so viel beschworene vernetzte Denken, da es fächerübergreifend Fremdsprache, Geschichte, Philosophie, Literatur, Religion, Philosophie und muttersprachlichen Unterricht miteinander verbindet.

Knappheit, Kürze und Eindeutigkeit sind stilistische Merkmale des Lateinischen, die bei der Übersetzung erhebliche grammatische Denkarbeit nach sich ziehen. Der eigentlichen Übersetzung des Textes in die Muttersprache muss eine Erschliessung vorausgehen, bei der die grammatischen Strukturen, die Mikrostruktur des Textes ermittelt werden. Diese Analysearbeit ist sowohl im Deutschunterricht als auch bei den modernen Fremdsprachen weniger ausgeprägt Für eine Überserzung, die ihren Namen verdient, muss in der Zielspracke ein angemessener Ausdruck gefunden werden. Da gerade die Übersetzung in den modernen Fremdsprachen lange Zeit verpönt war, ergibt sich hier für das Lateinische eine besondere Bedeutung.

Dadurch, dass der Lateinunterrichr in der Alltagssprache weniger benutzte Wörter lebendig hält und zu einem sorgfältigen und nuancenreichen Umgang mit der Mutlersprache anleitet, wirkt er auch spracherzieherisch. Dazu allerdings müssen sich die Lateinlehrer von der reinen Übersetzungsarbeit lösen, um den Zusammenhang eines Textes und die Absichten zu erörtern, die darin durch Rhetorik zum Ausdruck gebracht werden. Ohne die spannende Suche nach der zu Grunde liegenden politischen Absicht des Werkes gerät Cäsars «De bello gallico» zu einer öden Aneinanderreihung von Schilderungen verschiedener Schlachten. Gerade hier wird die Sprache ganz klar in den Dienst einer Expansions- und Machtpolitik gestellt, die es zu rechtfertigen galt.

Von dem alten Argument für den Lateinunterricht, dass die Kenntnis von Fremdwörtern unmittelbar mit der Kenntnis des Lateinischen zusammenhängt, sollte man sich dagegen raasch verabschieden: Denn auch Nichtlateiner benutzen Fremdwörter korrekt unbd kennen deren Bedeutung. Sie werden sie allerdings häufig nicht auf ihre Ursprünge zurückführen können. Denn 75% der Fremd- und Lehnwörter im Deutschen sind aus dem Lateinischen übernommen, auch wenn sie heute oft etwas anderes bedeuten als früher.

Im Italienischen ist von 8000 gängigen Wörtern sogar ein Fünftel ohne Änderung in der lateinischen Schreibweise erhalten geblieben. Ungefähr 20 Prozent des französischen und 27 Prozent des spanischen Grundwortschatzes haben ihren lateinischen Stamm bewahrt. Bei den romanischen Sprachen mag dieser Befund nicht überraschen. Doch selbst im Englischen stammen je nach Textsorte bis zu 80% des Wortmaterials direkt oder ndireke aus dem Lateinischen. Bei umgangsprachlichen englischen Texten liegt der Anteil von Wörtern lateinischen Ursprungs bei etwa 50 Prozent. Wer vor diesem Hintergrund Schülerinnen und Schüler davon abhält, Latein zu lernen, muss sich fragen lassen, ob er der internationalen Wissenschaftssprache Englisch damit nicht letztendlich einen Bärendienst erweist.

BildDie moderne Lateindidaktik: bemüht sich seit geraumer Zeit darum, nicht nur Grundlagenwissen über das Altertum, mythologische und kulturgeschichtliche Kenntnisse zu vermiteeln, sondern auch den Alltag im alten Rom anschaulich zu machen. Dabei erfahren die Schülerinnen und Schüler, dass es sich in der Ewigen Stadt keineswegs um eine Idylle mit Tempeln, grosszügigen Foren und prächtigen Bauwerken handelte, sondern um eine hektische Metropole mit Lärm, hohen Mieten, vom Einsturz bedrohten Gebäuden und Verkehrsstockungen. Das erste Fahrverbot ist nicht in unseren Tagen wegen der Ölkrise oder wegen erhöhter Ozonwerte verhängt worden, sondern im Jahr 45 v. Chr., als Cäsar anordnete, dass ausser der Müllabfuhr, dem öffentlichen Bauverkehr und den Wagen der Triumphzüge während der ersten zehn Stunden des Tages kein Wagen die Innenstadt Roms befahren durfte.

 

BildDie Schülerinnen und Schüler sollen durch überarbeitete Lehrpläne und attraktive Unterrichtswerke so gefördere werden, dass sie die Sprache gut genug erlernen, um einen sicheren Zugang zu den Unterrichtsinhalten gewinnen zu können. Ohne dieses Wissen sind sie nicht in der Lage, literarische, künstlerische, philosophische oder auch politische Zitate und Adaptationen antiker Motive zu entschlüsseln. Dabei müssen sie Latein als emotionales und menschliches Abenteuer erfahren, als eine Zeitreise zu den Wurzeln unserer abendländischen Kultur. Wenn dies gelingt, werden sie der lateinischen Sprache und ihren Inhalten eng verbunden bleiben.

 

 

 


Zurück zur Seite "Varia 2000"

Zurück zur Seite "Varia"