Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
Klassische Sprachen |
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NZZ Zeitfragen, 25. November 2000, Nr.276, Seite 99
Ist die Bildung am Ende des Lateins?
Immer weniger Schüler lernen am Gymnasium alte Sprachen
Von Kathrin Meier-Rust*
Kaum ein Schulfach hat über die Jahrzehnte so dramatisch an Prestige und Stellenwert eingebüsst wie das Latein. Seit es in vielen Kantonen nur noch als Wahlfach angeboten wird, bevorzugen viele Schüler Englisch, Spanisch oder Italienisch. Eine Renaissance könnte dann einsetzen, wenn Latein zur Sprache der Eliten wird und damit entsprechende Chancen auf dem Arbeitsmarkt verspricht.
Schon statistisch lässt sich verfolgen, wie das einst unangefochtene Kernfach der Gymnasialbildung in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend an ihren Rand gedrängt wurde: Noch in den frühen siebziger Jahren lag der Anteil der Maturitätsabschlüsse mit Latein (Typus A und B) bei knapp zwei Dritteln aller Abschlüsse in der Schweiz. Der neusprachliche Typ D kam 1972 in seinem ersten Jahr nach der Einführung gerade einmal auf 1 Prozent, der Wirtschafts-Typ E lag damals bei 12,5 Prozent. Rund 30 Jahre später ist der Anteil der Lateinmaturitäten auf 27 Prozent gesunken, derjenige der neusprachlichen dagegen auf 20 Prozent angestiegen, und der Wirtschaftstyp kletterte sogar auf 23 Prozent.
Vom Zwang- zum Wahlfach
In den kontinuierlichen Langzeit-Niedergang des Lateins brach das neue Maturitätsanerkennungsreglement (MAR 95) des Bundes ein, das die vierjährige gymnasiale Oberstufe seit zwei Jahren für die ganze Schweiz einheitlich regelt: Statt einen Typus wählen Gymnasiasten nun zu den obligatorischen Grundlagenfächern individuelle Wahlfächer und ein Schwerpunktfach. Latein ist damit ein Wahlfach unter vielen geworden. War es schon vorher auf dem Weg zur Matur zu umgehen, so geschieht dies nun noch leichter. Dass Latein als Wahlfach einen schweren Stand haben würde, war erwartet worden, und es hat sich inzwischen vollumfänglich bestätigt: Am vierjährigen Kurzzeitgymnasium, wo Latein entweder als dritte Sprache zur Wahl steht (also in Konkurrenz zu Englisch, Italienisch oder Spanisch und mit derselben Stundenzahl wie diese) oder als Schwerpunktfach gewählt werden kann, hat es schlicht keine Chance. Das Bild präsentiert sich dann in vielen Kantonen ähnlich wie beispielsweise im Kanton Bern: Von 1991 bis 1997 hatten hier durchschnittlich 13,3 Prozent der Schüler den Typus B gewählt, bereits im ersten MAR-Jahrgang sackte der Anteil der Latein lernenden Gymnasiasten auf 4,7 Prozent ab.
Die Hoffnungen vieler Latein-Verteidiger konzentrierten sich deshalb im Vorfeld des MAR auf das Langzeitgymnasium, den traditionellen Hort der klassischen Bildung schlechthin. Das öffentliche Langzeitgymnasium (vom MAR weder verlangt noch erwähnt) ist zwar als teure Bildungsinstitution aus vielen Kantonen in den letzten Jahren ganz verschwunden (Thurgau, Schwyz, Bern, Basel-Stadt), in weiteren (Luzern) ist es bedroht, einige Kantone (Aargau, Baselland) haben es nie gekannt. Umso grösser war die Überraschung dort, wo seine Existenz relativ gesichert ist und es sogar steigenden Andrang verzeichnet, nämlich im Kanton Zürich. Trotz obligatorischem Lateinunterricht für alle Langzeitgymnasiasten in den ersten beiden Jahren wird auch hier das Latein seit der Neuregelung mit konstanter Frequenz abgewählt, sobald dies - dank MAR - im dritten Jahr möglich ist.
In den elf Langzeitgymnasien des Kantons Zürich - die eigentliche Latein-Bastion der Schweiz - hatte der Anteil der Latein-Wähler im vergangenen Jahrzehnt immer um 60 Prozent betragen. Doch bei den drei bisherigen MAR-Jahrgängen sank der Anteil der Schüler, die eine alte Sprache (Griechisch, Latein oder beides) als Maturfach wählten, zuerst auf 50 Prozent, im nächsten Jahr auf 43 und in diesem Frühjahr (Wahl der jetzigen Gymnasiasten am Ende des zweiten Jahres) auf 39 Prozent ab. Mit anderen Worten: Auch ohne die Konkurrenz zum Englisch verliert das Latein schnell und stetig an Boden. Einzig die Klosterschulen haben die Notbremse gezogen. Die Stiftsschule Einsiedeln erklärte Latein zum Grundlagenfach und lässt damit die Abwahl schlicht nicht zu. In Disentis wurde immerhin die Konkurrenz zu den modernen Sprachen ausgeschaltet, hier ist Latein ausschliesslich Schwerpunktfach und wird als solches noch von rund der Hälfte der Schüler gewählt.
Notwendig für Geisteswissenschaften
Ob von den eidgenössischen Bildungsreformen befürchtet, in Kauf genommen oder beabsichtigt - die Auswirkung des MAR auf die alten Sprachen ist verheerend und stellt in der schweizerischen Gymnasialbildung nichts weniger als einen Paradigmenwechsel dar: Die «lateinlose» Matur wird zu jenem Normaltypus, den bisher die Matura mit Latein darstellte. Und während Griechisch ganz zu verschwinden droht, könnte das Latein in dessen Rolle als exotisch-antiquiertes Orchideenfach abgedrängt werden. Jenseits allen Lamentierens über den Verfall der Bildung ist dies ein Wertewandel, der es verdient, nicht nur von Lateinlehrern wahrgenommen zu werden. Dies schon deshalb, weil die Schweizer Universitäten für das Studium nahezu aller geisteswissenschaftlichen Fächer (also neben den Sprachwissenschaften auch für Geschichte, Kunst, Philosophie usw.) nach wie vor auf dem Latinum (oder Graecum) bestehen und dies auch in Zukunft tun zu gedenken scheinen: eine Arbeitsgruppe aller philosophischen Fakultäten erarbeitet derzeit eine einheitliche Regelung für die ganze Schweiz.
Warum wählen auch viele jener Gymnasiasten, die sich für ein sprachliches Profil entscheiden, also die potenzielle Kandidaten für ein geisteswissenschaftliches Studium, das Latein ab, das sie dann an der Uni mühsam nachholen müssen, verlängert das Lateinobligatorium das Studium doch um mindestens ein Jahr? Und warum wird Latein dann aufgegeben, wenn nach zwei Jahren obligatorischem Büffeln der Grundlagen eigentlich die interessante Phase dieses Unterrichts beginnt? Über diese Fragen zerbrechen sich Rektoren und Lateinlehrer gegenwärtig die Köpfe. Weitgehend einig ist man sich darin, dass es nicht an der Qualität des Lateinunterrichts liegen kann. Tatsächlich hat wohl kaum ein Schulfach seinen Unterricht so radikal umgekrempelt und modernisiert wie das Latein - nicht zuletzt unter dem «heilsamen Druck des Untergangs», wie Theo Wirth, Lehrer für alte Sprachen am Literargymnasium Rämibühl in Zürich, erklärt.
Attraktiver Lateinunterricht
Natürlich muss die Sprache auch heute noch gelernt werden, doch längst steht stures Grammatikbüffeln nicht mehr im Zentrum des Unterrichts. Die Vermittlung der Kulturgeschichte der Antike, sprachtheoretische Reflexionen zu Struktur und Geschichtlichkeit von Sprachen überhaupt, präzises Übersetzen ins Deutsche und natürlich die Diskussion und Interpretation von klassischen Texten gehören zu seinen Hauptanliegen. Gerade weil der Unterricht der modernen Fremdsprachen heute ganz im Dienste der Kommunikation steht, hat das Latein die Aufgabe übernommen, in das Analysieren von Sprache und Text einzuführen.
Attraktiv, bunt und multimedial ist auch der äussere Auftritt des Faches. Eine Fülle von reich illustrierten Lehrbüchern hat die dürren Grammatikfibeln von einst ersetzt, längst kann man den ACI und das «fero, tuli, latus» auch auf dem Internet üben, wo nebst zahllosen kulturgeschichtlichen und sprachwissenschaftlichen Informationen sogar aktuelle Nachrichten auf Lateinisch zu finden sind. Entgegen dem Klischee sind Altphilologen alles andere als altmodisch in Sachen Informationstechnologie. Woher also der Überdruss am Latein? Eine Vermutung geht dahin, dass es die grosse Stundendotation in den unteren Klassen sei (mit sechs oder gar sieben Wochenlektionen), die sich kontraproduktiv, nämlich im Sinne einer unvermeidlichen Ermüdung, auswirke. Die meisten Lateinlehrer wehren sich gegen diese Theorie, und die Statistik scheint ihnen Recht zu geben: An Gymnasien mit weniger Lateinunterrichtsstunden wird das Fach nämlich noch drastischer abgewählt (zum Beispiel an der Kantonsschule Wetzikon in Zürich mit vier Wochenstunden und 22 Prozent Latein-Wählern).
Die Frontkämpfer des Lateins, die erleben müssen, wie selbst gute, engagierte Schüler ihrem Fach davonlaufen, sehen im Latein ein Opfer des Zeitgeistes. «Danke, es war schön, hat mir gut gefallen - aber es reicht», bekommt Wolfgang Kastner an der Kantonsschule Rychenberg in Winterthur von seinen Schülern zu hören: «Sie glauben, das Fach nun zu kennen, und wollen etwas Neues.» Eine «Surf-Haltung» nennt dies Theo Wirth, die im Übrigen nicht nur das Latein betreffe, sondern alle Fächer, die abwählbar sind. Nach zwei Jahren Italienisch werde auf Spanisch umgesattelt und umgekehrt, «ein ständiger Neuanfang, um den Schwierigkeiten auszuweichen». - «Es ist menschlich, dass man abwählt, was anstrengend ist», sagt Theo Wirth weiter. Weder das Verhalten der Schüler noch der Lateinunterricht sei deshalb für den MAR-Einbruch letztlich verantwortlich, sondern ein System, das die Surf-Haltung erst möglich macht und unterstützt. Dass Latein zur Wahl steht, während andere ebenso «schwierige» oder «unbeliebte» Fächer - Mathematik, Physik, Chemie - fraglos zum Pflichtstoff gehören, empfinden Lateinlehrer begreiflicherweise als betrüblich.
Doch natürlich ist es kein Zufall, dass Latein das einzige Schulfach ist, über dessen Daseinsberechtigung gestritten wird. Wie kein anderes Fach verkörpert die tote Sprache ein Bildungsideal, das seinen Wert nie mit materiellem Nutzen, sondern allein mit dem Zugang zur abendländischen Tradition und Kultur begründet hat. Erstaunlich lange hat dieses Bildungsideal allen Anfechtungen des Laufbahn-Utilitarismus und der Rationalisierung getrotzt - unter dem Angriff der Ökonomisierung und Globalisierung scheint es nun zusammenzubrechen: Der «Lateinknick» ist ein Indikator dafür, wie sehr sich der Bildungsbegriff gewandelt hat.
Latein für die Elite
Lateinlehrer sehen in diesem Wandel vor allem einen Modetrend. Solange er anhält, gelte es, das Langzeitgymnasium mitsamt Lateinobligatorium zu verteidigen, das Fach so interessant wie möglich zu unterrichten, Eltern und Schüler unermüdlich aufzuklären über seinen Wert und den Kollegen vom Spanisch die Stirne zu bieten, wenn sie mit Ferienprospekten für ihr Fach werben. Überwintern bis zur nächsten Renaissance, lautet die Devise.
Realistischer scheint eine andere Perspektive. Schwierige Fächer, die selbst gewählt werden, pflegen eine kleine, dafür aber leistungsfähige und hochmotivierte Elite anzuziehen. Eine unverblümte Attacke auf das Lateinlernen als «verlorene Lebenszeit» in der «Basler Zeitung» löste in diesem Frühjahr eine Lawine des Protestes nicht etwa von Lateinlehrern, sondern von Latein lernenden Gymnasiasten aus: «Ich weiss selber nicht, für was es beruflich gut sein könnte, aber ich weiss, dass ich mich für alte, junge und tote Sprachen interessiere», schrieb da etwa die 15-jährige Dorothee Hug. Sollte sie dereinst Altphilologie studieren (die Studentenzahlen für Latein und Griechisch haben zum Beispiel an der Universität Zürich seit 1995 wieder zugenommen), wird sie beste Berufschancen haben: Genau wie Hochschulabsolventen anderer anspruchsvoller Fächer von der Physik bis zur Slawistik werden auch Altphilologen heutzutage von der Wirtschaft gierig aufgesogen. Im Unterschied zu gewissen Bildungspolitikern, die unablässig für Modernisierung plädieren, scheint gerade die Wirtschaft den Wert des anspruchsvoll gebildeten Generalisten längst erkannt zu haben.
* Kathrin Meier-Rust ist Journalistin in Zürich. Sie verfügt über einen Maturaabschluss Typ A (Altgriechisch und Latein).
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