Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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Neue Zürcher Zeitung Literatur und Kunst, 21. Oktober 2000, Nr.246, Seite 84
Antikenrezeption im Manierismus
Eine neue Studie über Pirro Ligorio
Von Katharina Dobai
Der neapolitanische Maler, Architekt und Antiquar Pirro Ligorio (1513-1583) war lange ein «Stiefkind» der Cinquecento-Forschung. Für die Archäologen der Jahrhundertwende galt er noch als «Antikenfälscher». Ligorios Manuskripte sind aber ein wichtiges Quellenmaterial zum Antikenbild, zur Archäologie und Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts. Von Anna Schreurs liegt nun eine neue Studie mit publizierten Quellenschriften vor.
«Antikenbild und Kunstanschauungen des neapolitanischen Malers, Architekten und Antiquars Pirro Ligorio (1513-1583)» ist der dritte Band der Bonner Beiträge zur Renaissanceforschung, herausgegeben vom inzwischen verstorbenen Gunter Schweikhart. Die Verfasserin, Anna Schreurs, legt eine bemerkenswerte Studie vor: Ligorio war für die Kunstgeschichtsforschung lange eine umstrittene Figur. Giorgio Vasari, Chronist und Vitenschreiber des Cinquecento, erwähnt Ligorio in seiner Lebensbeschreibung Michelangelos in zwei nicht sehr einnehmenden Episoden: Als Baumeister von St. Peter in den Diensten Papst Pauls IV. soll er den alten Bildhauer «gequält» haben, der am liebsten nach Florenz heimgekehrt wäre. Und als Leiter der «fabbrica» von St. Peter habe er nach dem Tod des grossen Baumeisters 1564 Änderungen in dessen Plänen vorgenommen, was seine Entlassung zur Folge hatte. (Über die Urheberschaft der Attika von St. Peter wird noch heute diskutiert.)
DIE FRÜHERE FORSCHUNG
Vasari, der Michelangelo als den genialsten Künstler seiner Zeit verehrte, ignorierte daher Ligorio in seinen Viten, obwohl der Architekt und Antiquar zu seinen Lebzeiten berühmt war. Seit Wilhelm Henzen (1877) galt Ligorio für manchen Autor als «Antikenfälscher» und «wirrköpfiger» Altertumsforscher. Ein objektiveres Bild gewann die Kunstwissenschaft nach zahlreichen Einzelstudien zu seinem antiquarischen und künstlerischen Schaffen seit jener Wilhelm Friedländers zum Casino di Pio IV. in Rom (1912). Die Studien von David R. Coffin zu Ligorios Tätigkeit in Ferrara (1955), zur Villa d'Este in Tivoli (1960) und zu seinem Traktat über die Erhabenheit der Künste (1964), jene Erna Mandowskys und Charles Mitchells (1952-54; 1963), die dem «Fälscherbild» ein Ende setzten, Marcello Fagiolos und Maria Luisa Madonnas Ausführungen zur römischen Zeit und das Colloquium in der Villa I Tatti in Florenz 1983 anlässlich des 400. Todestages von Ligorio, dessen Vorträge von R. W. Gaston 1988 publiziert wurden, haben das Bild stark modifiziert.
Bei diesem Anlass wurde eine vollständige Ausgabe der umfangreichen antiquarischen Manuskripte Ligorios, über 40 Bände, die in verschiedene Archive und Bibliotheken in Neapel, Turin, Oxford und Paris verstreut sind, für eines der dringlichsten Desiderata der Forschung erklärt. Bisher hatte Nicole Dacos 1969 Ligorios kurze Abhandlung über die Groteskenmalerei veröffentlicht und Paola Barocchi den gleichen Text sowie sein Traktat «Über die Erhabenheit der antiken Künste» («Scritti d'arte del Cinquecento» III, 1977). Eine Hauptgruppe von Ligorios Manuskripten sind die Neapeler Bände, entstanden in den römischen Jahren; die zweite sind die in Turin, entstanden nach Ligorios Umzug nach Ferrara im Jahre 1569. Das System der Neapeler Manuskripte ist thematisch angelegt, das der Turiner Bände alphabetisch. Schreurs erklärt die Oxforder und Pariser Manuskripte nicht (wie bisher angenommen) als zu den frühen römischen gehörig.
EIN NEUES BILD LIGORIOS
Ligorio verstand sich in erster Linie als Altertumsforscher. Er sammelte enzyklopädisch, aber unsystematisch Informationen zur Antike auf allen möglichen Gebieten wie Epigraphik, Numismatik, Topographie, Ikonographie, Mythologie, sogar über antike Frisuren. Seine Leidenschaft für die Antike scheint einem Verlustgefühl zu entstammen: Zahlreiche Werke fielen rücksichtsloser Zerstörung anheim. Ligorios Wunsch, das «Goldene Zeitalter» Antike rekonstruiert zu sehen, wurde für sein Denken ausschliesslich, fast obsessiv.
Anna Schreurs' Publikation ist ein grosses wissenschaftliches Unterfangen. Ihr Ziel scheint ein umfassendes Bild vom Künstler, Architekten und Antiquar anhand des Quellenmaterials und seiner Interpretation unter dem Gesichtspunkt von Ligorios Antikenbild. Das Unterfangen ist zu ambitiös; man bemerkt den Versuch der Autorin, ihr thematisch zu weit gefasstes Gefüge durch Hervorheben der Ausschliesslichkeit der Antike als Norm für Ligorio zusammenzuhalten. Diese Beanstandung ist aber geringfügig im Vergleich zum realen Wert ihres Aufwandes. Vermutlich ist es für ein selbstverständliches Bild von Ligorio zu früh. Die Studie zeigt auch das Problem, dass man Ligorio gerne «nahtlos», ohne Widersprüche sehen würde. Jedoch die Subjektivität, das Kontradiktorische seiner Anschauungen machen ihn zu einem lebendigen und interessanten Phänomen der manieristischen Zeitepoche.
QUELLENTEXTE
Die Verfasserin hat Quellentexte im italienischen Original im Anhang publiziert. Teil I enthält die Einführung zu den antiquarischen Manuskripten: Übersicht, Auflistung der Bände mit Inhaltsverzeichnis, Datierung und Abfolge. Teil II sind autobiographische Textpassagen zu den eigenen Werken der Architektur, zur Methode der eigenen antiquarischen Studien und Zeitkritik unter dem Aspekt der Antikenfälschungen, Antikenzerstörungen, persönlichen Enttäuschungen und des «korrupten Jahrhunderts». Teil III enthält Aussagen über Zeitgenossen, Auftraggeber, Gelehrte, Sammler und Künstler, Teil IV das Traktat «Über die Erhabenheit der antiken Künste». In Teil V sind Informationen Ligorios über antike Künstler, in Teil VII seine Beschreibung antiker Kunstwerke der Architektur und Skulptur zu finden.
Unter dem Stichwort «Antikenzerstörungen» finden wir beispielsweise 35 Textstellen. In Nr. 90, «Della Via Flaminia», wird etwa berichtet von einer «Sepoltura o ver Mausoleo [. . .] di rappresentativa maestà, et vaghezza grandissima», einem prachtvollen Grabmonument, wo ein «habgieriger Architekt [. . .] dem Papst in den Ohren gelegen sei», es zur Materialverwertung abzubrechen. Bei den 95 Original-Textstellen zu antiken Skulpturen kann man unter Nr. 524, «Toro Farnese», Ligorios Beschreibung des berühmten Werks nachlesen - interpretiert als ein «Pasticcio» antiker mythologischer Sujets.
Der Text folgt einer anderen Ordnung. Behandelt werden Ligorios Schriften zur Altertumskunde und ihre Rezeption, seine Position in der römischen Gelehrtenwelt, seine Polemiken mit Zeitgenossen, die Jahre am päpstlichen Hof, seine Kunstanschauungen (Antikennachahmung, Beurteilung der zeitgenössischen Künstler, das Traktat über die Erhabenheit der Künste), sein Antikenbild und sein Postulat vom «gelehrten Künstler». Gelegentlich revidiert die - im Übrigen sorgfältige - Autorin bisherige Forschungsergebnisse auf Grund ihrer neuen Einsichten. Die Bibliographie enthält manch interessante Publikation jüngeren Datums.
BIOGRAPHISCHES
Wer war nun die streitbare Person, die nicht nur Michelangelo, sondern auch den berühmtesten Rom-Topographen seiner Zeit, Marliano, anzugreifen wagte? 1560 wird Ligorio Ehrenbürger der Stadt Rom, 1580 auch von Ferrara. Daniele Barbaro zollt ihm Lob in seiner Vitruv-Übersetzung (1556). Und noch in Poussins Bildhintergründen finden wir Architekturen von Ligorio. Ligorios erster Biograph war Baglione (1642). Der aus einer Patrizierfamilie stammende Neapolitaner kam 1534 nach Rom. Von seiner Tätigkeit als Maler wissen wir wenig. Nach 1549 ist er für den Kardinal Ippolito II. d'Este als «antiquario» tätig, dem er sein 1553 bei Michele Tramezzino in Venedig erschienenes «Libro delle antichità di Roma» widmet. Bei Tramezzino erschienen auch sein Kartenwerk des Königreichs Neapel, zwei Rom-Pläne (1552/53) und ein grosser Plan des antiken Rom.
In Rom begründete er eine Karriere als Architekt: als Entwerfer des Palazzo Torres (Palazzo Lancellotti) an der Piazza Navona, nach 1557/58 als päpstlicher Architekt; unter Papst Pius IV. mit dem Bau des Casino di Pio IV. (1558-1561) in den Vatikanischen Gärten und mit dem Ausbau des Cortile del Belvedere. Nach dem Tode Michelangelos übernimmt er im Sommer 1564 die Leitung von St. Peter. Sein Eingriff in dessen Pläne bedeutet das Ende seiner Karriere.
Er entwirft noch den Palazzo della Sapienza; im August 1565 kommt er aber durch die Verleumdung eines Konkurrenten am päpstlichen Hof, Guglielmo della Portas, ins Gefängnis, aus dem ihn die Intervention des Kardinals Alessandro Farnese rettet. Pius IV. erteilt ihm den ehrenvollen Auftrag für das Grab von Papst Paul IV. in der Kirche S. Maria sopra Minerva, doch verkauft der finanziell bedrängte Antiquar 1567 eine Anzahl Manuskriptbände seiner «Antichità di Roma» und seine antike Münzensammlung. Gegen seine Hoffnung erhält Vignola die Leitung der «fabbrica di S. Pietro». Enttäuscht tritt Ligorio in den Dienst des Kardinals Ippolito d'Este, dem er Entwürfe für seine Villa in Tivoli liefert.
1568/69-1583 ist er Hofantiquar bei Alfonso II. d'Este in Ferrara. Seine ausgezeichneten Kenntnisse der römischen Antikensammlungen kommen ihm als fürstlichem Ratgeber beim Ankauf von Antiken zugute. Er ist hier als Dekorationsentwerfer, Architekt und Freskoentwerfer tätig, sein Hauptwerk sind jedoch seine Manuskriptbände zur antiken Welt, heute im Staatsarchiv Turin.
«RETTER» ANTIKER WERKE
Dem Bild des «Antikenfälschers» stehen Ligorios Bemühung um die Rettung antiker Werke und seine Klage über Antikenzerstörungen aus Profitsucht, Münz- und Inschriftenfälscherei entgegen. Er bezichtigt auch Papst Paul III. der Antikenzerstörung. Seine «Fälschungen» werden heute als Vollständigkeitsstreben, aber auch als Zeitphänomen gedeutet, wie die «Ergänzung» des Mithras-Stieropfer-Reliefs (im 16. Jahrhundert unter S. Maria in Aracoeli in Rom), das eine Zeichnung im Codex Coburgensis fragmentarisch zeigt. Ligorios Schilderungen antiker Werke, wie der Statue des Demosthenes, heute in der Ny Carlsberg Glyptothek, Kopenhagen, lesen sich interessant.
Seine Aufzeichnungen sind eine Fundgrube zur Archäologie und zu Bauwerken im Cinquecento: zum Beispiel zum Dioskurentempel (San Paolo Maggiore) in Neapel, den Ligorio «rekonstruiert», oder zu den 1546 auf dem Forum Romanum gefundenen kapitolinischen Fasten, wo er die sorglose Zerstörung des antiken Bauwerks beschreibt und die architektonische Rahmung der berühmten Tafeln durch Michelangelo kritisiert. Für Archäologen wertvoll ist seine Rekonstruktion der Meta Sudans, einer antiken Brunnenanlage zwischen Kolosseum und Konstantinsbogen, die um die Mitte des 16. Jahrhunderts als Ruine erhalten war, anhand von antiken Münzen. Der phantasiereiche Antiquar stellt auch eine strikte, auf die Vorstellungen der «Accademia della Virtù» in Rom (Claudio Tolomei) zurückgehende «methodische» Forderung an Kollegen wie Gentile Delfini und Bartolomeo Marliano: das Studium antiker Quellen und der Objekte vor Ort. Er beanstandet auch Einzelgängertum in der Forschung.
VERHÄLTNIS ZU ZEITGENOSSEN
Ligorio wurde auch zu zeitgenössischen Projekten beigezogen; dank seiner Schilderung einer «Kommissionssitzung» im Zusammenhang mit Brunnenzeichnungen hat die Autorin mit Stefan Morét 1994 den Künstler (Tommaso Laureti) und das Projekt (Neptunbrunnen in Bologna) identifiziert. Ligorios Anschauungen über zeitgenössische Künstler und Kunsttheorie sind nur teilweise originell. Sie spiegeln den Übergang vom Manierismus zur Gegenreformation. Ligorios kunsttheoretische Position wird bei Schreurs angesprochen, aber nicht wirklich vertieft. Naturnachahmung und das Vorbild der Antike sind für ihn die Kriterien für gute Kunst.
Er verwirft die gekünstelten Posen und Verkürzungen der «maniera», wie vor ihm Lodovico Dolce (1557) und Giovanni Andrea Gilio da Fabriano (1564). Michelangelo wirft er Einseitigkeit der Körperdarstellung vor. Er zieht ihm als Maler Raffael vor, der ihn durch «varietà» (Vielfalt) überrage. Trotz Kritik an den Gräbern der Neuen Sakristei von San Lorenzo in Florenz bleibt Michelangelo für Ligorio als Bildhauer und im «disegno» (Zeichnung) massgebend. Beim Jüngsten Gericht der Sixtinischen Kapelle nimmt er Aretins Kritik auf, die Fresken seien wegen der Nacktheit der Figuren eines Badezimmers, nicht einer Kapelle der Christenheit würdig.
Im «Paragone»-Streit gibt er der Malerei den Vorzug vor der Skulptur, Abstand nehmend von Michelangelo. Michelangelos Architektur - zum Beispiel die Porta Pia - übersteigt sein Verständnis. Er erweist sich als Traditionalist, der - so das Fazit der Verfasserin - der Weiterentwicklung der Kunst eigentlich entgegensteht. Nach Vasari hat Michelangelo die Künstler der Antike übertroffen - eine Ansicht, die Ligorio keineswegs teilt. In Rom missfallen ihm neben Michelangelo auch der junge El Greco und der von Vasari gelobte Miniaturist Giulio Clovio.
Ligorio beanstandet bei den Manieristen die von der Antike abweichenden «capricci» wie Kartuschen, Masken usw. und die Groteskenmalerei. Vor allem stören ihn Verstösse gegen die antike Ikonographie. Die Antike ist für ihn «Virtus», Tugend. Raffael kommt seinem Ideal am nächsten: Die «Hl. Cäcilia» (Bologna, Pinakothek) gilt für ihn als absolutes Meisterwerk. Raffael und der Antike nahestehende Künstler wie Lorenzetto, Vincenzo de' Rossi und Giovanni da Udine finden sein Lob, auch Parmigianino und Giulio Romano, die er als Raffael-Schüler sieht, deren manieristische Eigenarten er aber ignoriert. Merkwürdig ist sein Lob für Vincenzo de' Rossi, einen manieristischen Bildhauer par excellence. Ausser gegen Michelangelos Jüngstes Gericht richtet sich sein Vorwurf gegen die mangelnde Eindeutigkeit in der christlichen Kunst - ein gegenreformatorischer Zug. Ligorio ist also zwischen zwei Extremen zu sehen, die sich durch die ganze Manierismuskritik ziehen: Klassisch und Antiklassisch.
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Anna Schreurs: Antikenbild und Kunstanschauungen des neapolitanischen Malers, Architekten und Antiquars Pirro Ligorio (1513-1583). Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2000. (Atlas - Bonner Beiträge zur Renaissanceforschung, Bd. 3.) ISBN 3-88375-358-0, Fr. 189.-.
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