Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Donnerstag, 22.06.2000 Nr. 143 65
Im Taumel der Verwandlungen
Yoko Tawadas «Opium für Ovid»
Yoko Tawada wandelt zwischen den Welten. 1960 in Tokyo geboren, übersiedelte sie 1982 nach Hamburg und fing an, auf Deutsch und Japanisch Lyrik, Prosa und Theaterstücke zu schreiben. Viele ihrer Texte erzählen von der Unterschiedlichkeit der Erfahrungen und Sprachen, aber auch von Analogien, die keineswegs ins Auge springen, sondern die nur ein findiger Blick entdeckt. Wo Europa beginnt und wo Asien endet, ist einem, wenn man ihre Texte liest, nicht mehr so klar wie zuvor. Diese Irritation resultiert keineswegs aus dem Umstand, dass eine multikulturelle Folklore die Differenzen verwischt, sondern aus der Verstörung, dass all die gängigen, das abendländische Denken prägenden Dualismen, zwischen Fakt und Fiktion, Traum und Tatsache, Wahn und Wirklichkeit hier nicht mehr greifen.
Ihr 1987 erschienener Kurzroman «Das Bad» beginnt mit dem Satz: «Der menschliche Körper soll zu achtzig Prozent aus Wasser bestehen, es ist daher auch kaum verwunderlich, dass sich jeden Morgen ein anderes Gesicht im Spiegel zeigt.» Damit ist eines ihrer zentralen Themen, die Lust und das Leiden an den Verwandlungen, programmatisch angeschlagen. Mit ihrem neuen Buch «Opium für Ovid» knüpft sie an das Hauptwerk der von Verwandlungen handelnden Literatur an und entnimmt ihm zweiundzwanzig Frauenfiguren, um sie in weitere, im Heute spielende Metamorphosen zu verwickeln. Tawadas Geschöpfe besitzen nie fixe Konturen, und verglichen mit dem Schicksal von Kafkas Gregor Samsa sind sie ungleich verwirrenderen Mutationsprozessen ausgesetzt.
Glasklare Trunkenheit
Häufig ist in diesen Erzählungen von einer glasklaren Trunkenheit die Rede, die sich oszillierenden Wahrnehmungsphantasien verdankt. In Tawadas Universum segmentieren sich Menschen in Glieder, Stimmen und Blicke und beginnen Tieren zu ähneln, während gleichzeitig die Dinge menschliche Eigenschaften annehmen. Coronis etwa sieht in allen Gegenständen Gefässe, die nicht für sich selbst, sondern für anderes existieren: «Meine Geldbörse hat Münzen in ihrem Bauch, der Körper meines alten Füllers ist voller Tinte, meine blaue Teetasse hält die dunkle Flüssigkeit ruhig, und auch das Fenster ist die vordere Seite eines Aquariums. Ich sehe eine Wasserlandschaft darin. Draussen regnet es.» Ein kindlicher Animismus beseelt diese Welt und verwandelt die Dinge des täglichen Lebens in kleine Freunde oder auch Monster.
Jene «Erdfrauen von Gauguin», von denen einmal die Rede ist, bilden das Gegenstück zu Tawadas ätherischen, von keiner Herkunft geprägten und sich für keine Idealisierungen eignenden Gestalten. Die alltäglichen Situationen in denen man ihnen begegnet, bekommen stets etwas Traumhaftes als bewege man sich einen Fuss breit über dem Boden. Ob Diana beim nächtlichen Lesen unter der Bettdecke ins Delirieren gerät, oder Ariadne durch eine Stadt streift, die keine Strassennamen besitzt, immer beginnt die eben noch geordnete Wirklichkeit unruhig zu flirren. Ein Gleiches geschieht mit diesen sich selbst wie fremden Mächten ausgelieferten Gestalten, die man als Unbehauste empfinden kann, die sich selbst jedoch eher wie jene Schizos zu fühlen scheinen, die Deleuze und Guattari in ihrem «Anti-Ödipus» als vom Identitätszwang befreite Nomaden anpreisen.
Von der einstigen Göttin der Fruchtbarkeit wird berichtet: «Auch Ceres bekam eine Tochter. Es passierte ihr, obwohl sie es nie geplant hatte. Sie war nicht sesshaft, blieb nicht lange unter einem Dach. Mal lebte sie mit einem Studenten, der eine grosse Wohnung besass. Mal verliebte sie sich in eine Sängerin und reiste hinter ihr her.» Auf die Frage, wie sie es anstelle, immer so jung auszusehen, antwortet Ocyroë: «Viel arbeiten, ohne einen Auftrag zu haben. Viel Geld verdienen, ohne eine Stelle zu haben. Viel Erotik, viel Verkehr, ohne eine Beziehung aufzubauen.» Und von Coronis heisst es, sie sei «unfassbar und ungreifbar wie eine Abgemeldete». All diese Frauen sind Wolkenwesen, die jeden Tag anders aussehen können. Ihre Verwandlungen erleben sie wie das Kommen und Gehen von Gedanken, von denen schwer zu sagen ist, ob man sie herbeiruft oder nur passieren lässt oder ihnen ausgeliefert ist. Die Dichotomie zwischen Fremdbestimmung und Freiheit hakt in diesem Universum nicht: Alles ist im Fluss, und selbst auf diese heraklitische Gewissheit ist kein Verlass, weil auch die Versteinerung zum ovidschen Verwandlungsprogramm gehören kann.
Jenseits von Gut und Böse
Diese Erzählungen sind meilenweit entfernt von den literarischen Versuchen einer Christa Wolf, alte Mythengestalten einer heutigen Leserschaft in sozialkritischer Absicht näherzubringen. Wolfs Kassandrarufe sind Predigten an eine verblendete Menschheit, während Tawadas Geschichten mit den antiken Gestalten frei spielen. Von einem Maler, der unter ein Gemälde den Namen «Hera» schrieb, heisst es: «Man sah sofort, dass die abgebildete Frau seine Gemahlin war. Warum nannte er das Bild nicht gleich ‹Meine Ehegattin›? Eine faule Ausrede, griechische Namen zu benutzen.» Gleichzeitig wird behauptet, alle Bücher seien durch Adern miteinander verbunden. Also existieren auch dort mehrfache Spiegelungen, wo sie gar nicht inszeniert sind. Dass jeder Text sich aus anderen Texten speist und auf sie zurückverweist, ist eine Binsenweisheit, mit der Yoko Tawada ein doppeltes Spiel treibt: Einerseits belächelt sie das gebildete Bemühen um hermeneutische Sinnsteigerung, andererseits gibt sie mit ihren Namensspielen Rätsel auf, die vielleicht gar keine sind und dennoch zum Spekulieren anhalten.
Fest steht, dass zwei kanonische Werke im Titel herbeizitiert werden: zum einen Ovids «Metamorphosen», die vor zweitausend Jahren geschrieben wurden und die mythische Menagerie der antiken Welt noch einmal Revue passieren lassen, zum andern das «Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shonagon», das vor tausend Jahren in Japan von einer Zofe verfasst wurde, die tagebuchartig von ihren Beobachtungen, Vorlieben und Abneigungen berichtet. Während bei Ovid ein panoptischer Blick regiert, der die überlieferten Geschichten enzyklopädisch zusammenfasst, richtet Sei Shonagon das Auge auf sich selbst und so Alltägliches wie die Witterung und die Langeweile, die Scham und das Herzklopfen. Tawada verschmilzt die beiden Sphären und lässt im Profanen das Wunderliche sich ereignen.
Nicht zufällig greift sie auf die heidnische Vorstellungswelt zurück und spart jede Psychologie, die christliche Denkmuster voraussetzt, aus. Nur einmal taucht in Gestalt eines Ehemanns ein Vertreter unserer moralisierenden Vorwurfskultur auf: Es ist der Gatte der Schriftstellerin Coronis, der ihr, weil sie bei einer Lesung ihre Brille vergessen hat, vorhält, sie selber sei schuld an diesem Malheur. Es heisst von ihm: «Er benutzt gerne den religiösen Begriff der Schuld.» Und Coronis denkt dabei: «Was nützt es mir, über Schuld, Sünde, Sühne und Bestrafung nachzudenken? Ich will bloss meine Sehkraft.» Jener «Geist der Schwere», den Nietzsche dem christlichen Abendland attestiert, ist diesen Figuren unbekannt. Die Begriffe der Schuld und der Sühne, der Eigentlichkeit und der Entfremdung, wie sie auch im nachreligiösen Denken noch eine Hauptrolle spielen, sind ihnen fremd. Auf die Ermahnung, sie möge zu ihrem wahren Selbst zurückkehren, entgegnet die einst in eine Kuh verwandelte Io: «Bitte verschone mich mit deinen New- Age-Sprüchen.»
Mehrmals wird in diesen Texten der Satz variiert: «Wer sich dreht, fällt nicht um.» Wer an keinem Ort aufgehoben ist, mag seine Heimatlosigkeit beklagen, aber auch ohne die Illusion auskommen, es gebe einen Punkt, an dem das authentische Leben beginnt. Erbaulich sind Tawadas Geschichten nicht, aber das Haltlose, von dem sie handeln, erzeugt zuweilen eine von der Last der Selbstkontrolle erlöste Heiterkeit. Eine Botschaft ist diesen Geschichten gewiss nicht zu entnehmen, aber vielleicht erzählen sie von der Fähigkeit, sich dem Fremden auszuliefern, ohne es begreifen zu müssen.
Karl-Heinz Ott
Yoko Tawada: Opium für Ovid. Ein Kopfkissenbuch von 22 Frauen. Konkursbuchverlag, Tübingen 2000. 222 S., Fr. 24.80.
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