Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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Neue Zürcher Zeitung LITERATUR UND KUNST Samstag, 13.05.2000 Nr.111 83
Konfuzius und das Zwölftafelgesetz
Über die Ursprünge chinesischen und westlichen Rechts
Von Karl-Heinz Ludwig
Die Unterscheidung zwischen Recht und Gerechtigkeit ist den «westlichen» Sozialordnungen eigentümlich. Nicht nur unter diesem Aspekt unterscheiden sie sich von den Traditionen der chinesischen Gesellschaft. - Ein rechtshistorischer Vergleich.
Globalisierung lautet das Zauberwort unserer Tage. Die Welt, könnte man meinen, sei zum Dorf geworden. In allen Dörfern aber gibt es Streit. Zumal im «global village», denn zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen versagen leicht die Regelmechanismen, die innerhalb einer Kultur zumindest so gut funktionieren, dass sie den Bestand der Gemeinschaft als ganzer sichern. In besonderem Masse gilt dies für China, denn das chinesische Rechtssystem ist prinzipiell anders als das westliche. Damit stellt sich die Frage nach den Unterschieden zwischen westlichem und chinesischem Recht und wie und warum es zu diesen Unterschieden kam. Eine Antwort ist nicht möglich ohne Reflexion auf die Ursprünge beider Zivilisationen, wobei unter Zivilisation eine übergeordnete Einheit verstanden sei, gebildet aus lokalen, ethisch geprägten Kulturen. Ausgangspunkt für die Betrachtung ist somit die Ethnie als eine durch gemeinsame Abstammung, Sprache, Bräuche, Religion und Riten zusammengehaltene soziale Gruppe, wobei die kulturellen Bande nicht anders als die Bande des Blutes stetem Wandel unterliegen, der lebendigen Ausdruck findet in Mythen, Erinnerungen, Werten und Symbolen.
Dass die Menschen in den niederschlagsreichen Gebieten am südöstlichen Rand der eurasischen Landmasse eine andere Zivilisation entwickelt haben als jene, die nordwestlich davon in den Gebieten mit nur geringerem Niederschlag leben, liegt auf der Hand: Die Kulturen der in den semiariden und ariden Gebieten Tibets, Zentralasiens und der Mongolei lebenden Völker - auf Grund der klimatischen Bedingungen meist nomadische Viehzüchter - unterscheiden sich grundsätzlich von der Zivilisation der Han, jener sesshaften, im feuchten Klima zwischen der Mandschurei im Nordosten und Yunnan im Südwesten siedelnden Ackerbauern chinesischer Sprache und Kultur.
DIE MAUER ALS SYMBOL
Das Verhältnis der Chinesen zu ihren Nachbarn war stets geprägt von Abwehr und Verteidigung. Im Idealfall war China stark, und die Völker jenseits der Grenzen des eigenen Kulturraums waren tributpflichtig; im schlimmsten Fall wurde China vollständig unterworfen, rettete jedoch die eigene kulturelle Identität, indem es die Eroberer assimilierte. Das Weltbild, das sich auf Grund dieser Umstände entwickelte, fand seinen symbolischen Ausdruck in der Grossen Mauer. Diesseits der Mauer befand sich das Reich der Mitte, ausserhalb, an der Peripherie, lebten die Tributvölker; und jenseits von diesen lagen die übrigen Länder, mit denen man nicht unmittelbar zu tun hatte. Abschottung, nicht Annäherung war das Grundprinzip der Überlebensstrategie - ein denkbar schlechter Humus für jegliches Völkerrecht.
Förderte die Notwendigkeit der Abgrenzung und Verteidigung nach aussen das Entstehen einer starken Zentralgewalt, so taten im Innern wirkende Faktoren ein übriges, denn das Kerngebiet des Siedlungsraums der Han lag in den Überflutungsbereichen des Gelben Flusses und des Jangtsekiang. Beide Flusssysteme bargen gleichermassen Vorteile wie Gefahren. So bildete der fruchtbare Löss im Bereich des Gelben Flusses einerseits die Wiege chinesischen Ackerbaus, andererseits bedrohte der Strom aber die Menschen, wenn die Dämme brachen. Ähnliche Mechanismen waren auch weiter südlich am Jangtsekiang am Werk.
Während die Bewirtschaftung der Felder, die entsprechend den topographischen und klimatischen Gegebenheiten und je nach Art der Feldfrüchte unterschiedliche soziale Organisationsformen erforderte, dezentral reguliert werden musste, bedurfte es zur Bewältigung grosser Gemeinschaftsaufgaben wie Deich- und Kanalbau einer starken Zentralmacht, die diese Arbeiten zu organisieren und notfalls mit Zwang durchzusetzen in der Lage war. So kam es in China zur Doppelstruktur von verhältnismässig kleinen sozialen Einheiten auf lokaler und einer streng hierarchisch geordneten Verwaltung auf zentralstaatlicher Ebene. Die daraus resultierende innere Spannung zwischen zentrifugalen, vom Familienverband und von der Dorfgemeinschaft ausgehenden und zentripetalen, auf den Bestand und Zusammenhalt des Reiches als Ganzem gerichteten Kräften hat im Laufe der chinesischen Geschichte das Reich der Mitte immer wieder zerfallen und sich anschliessend neu zu Teilstaaten oder zu einem Zentralstaat vereinen lassen.
Neben naturräumlichen Faktoren spielte schon früh auch die gedankliche Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst als eines gesellschaftlichen Wesens eine für die chinesische Zivilisation konstitutive Rolle. So kam es zwischen 800 und 200 v. Chr. auch in China zu Weichenstellungen, die für die gesamte künftige Entwicklung richtungsweisend waren. Diese betrafen auch das chinesische Recht, dessen älteste bekannte Kodifizierung in Gestalt von Inschriften überliefert ist, die der Staatsminister Zi Chan des kleinen Staates Zheng 536 v. Chr. auf Bronzegefässen hatte anbringen lassen. Dieses Buch der Strafen (Xingshu) fand jedoch in anderen Staaten nicht nur Nachahmer, sondern stiess auch auf heftige Kritik, wie der berühmte Brief des Shu Xiang, eines Würdenträgers eines Nachbarstaates, an Zi Chan zeigt, in dem es heisst, in alten Zeiten hätten sich die Könige des Prinzips sozialer Gerechtigkeit (yi) bedient, die Menschen mit Hilfe von Verwaltungsmassnahmen im Zaume gehalten, für sie die ungeschriebenen Regeln rechten Verhaltens (li) aktiviert, ihnen gegenüber Vertrauen (xin) bewahrt und ihnen Beispiele für wohlwollende Menschlichkeit (ren) geboten.
Strafen und Bussen aber hätten sie nicht niedergeschrieben, weil Menschen, wenn sie wüssten, welche Strafen sie erwarten, ihre Furcht vor der Autorität verlören und sich nicht mehr an li hielten. Angesichts der Möglichkeit, vor Gericht Erfolg zu haben, würden sie sich streitsüchtig auf die geschriebenen Gesetze berufen und auf spitzfindigste Weise argumentieren. Die Ordnung störende Rechtsstreite würden sich mehren, und Bestechung wäre an der Tagesordnung. Überhaupt stehe ein Staat, in dem es zahlreiche Regierungsverordnungen gebe, vor dem Zusammenbruch.
Gesetze und Verordnungen, von denen wir gemeinhin annehmen, sie seien dazu da, Konflikte zu vermeiden oder wenigstens zu lösen, erscheinen hier als deren in Wahrheit eigentliche Ursache. Rechtssicherheit, so die These, verdirbt die Moral. Diese aus westlicher Perspektive reichlich ungewöhnliche Sicht der Dinge wird verständlich, wenn man bedenkt, dass der Text aus einer von Kämpfen geprägten Epoche stammt, in der sich die Menschen zurücksehnten nach der nostalgisch verbrämten «guten alten Zeit» friedlicher bäuerlicher Gemeinschaften. Und dieses Ideal einer von verwandtschaftlichen Beziehungen geprägten Sozialordnung, in der rechtes Verhalten durch verinnerlichte moralische Prinzipien und Riten gewährleistet und nicht mittels staatlicher Dekrete und Gesetze erzwungen wird, ist im Kern nichts anderes als das, worum es auch Konfuzius (551-479) ging, der fünfzehn Jahre alt war, als Shu Xiang den Legalismus verwarf.
Die Auseinandersetzungen zwischen den Konfuzianern und den Legalisten erreichten ihren ersten Höhepunkt mit der Einigung Chinas durch Qin Sihuangdi 221 v. Chr.: Der erste Kaiser liess es nicht dabei bewenden, seinen bürokratischen Zentralstaat streng legalistisch zu ordnen, sondern befahl 213 v. Chr. darüber hinaus, sämtliche nichtlegalistischen Schriften zu verbrennen, und verbot das Zitieren klassischer Texte. So fand Shu Xiangs Prophezeiung ihre Bestätigung: Qin Shihuangdis legalistische Regierungsmethode hatte ihn so verhasst gemacht, dass es bereits unmittelbar nach seinem Tod im Jahr 210 v. Chr. zum Volksaufstand kam, der bald darauf zum Sturz der Dynastie führte.
Obwohl die kurze, für die staatliche Entwicklung Chinas jedoch immens wichtige Episode der Qin-Dynastie den Ruf der Legalisten ein für allemal schwer beschädigte, bedeutete dies nicht, dass legalistische Vorstellungen und Praktiken seither keine Rolle mehr gespielt hätten. Tatsächlich haben sich alle späteren Dynastien schriftlich fixierter Gesetze und Verordnungen als Mittel staatlicher Ordnung und Kontrolle bedient, doch blieben diese fast ausschliesslich auf reines Straf- und Verwaltungsrecht beschränkt. Ein Zivilrecht im westlichen Sinne hat es in China nie gegeben.
Die Niederlage der Legalisten bedeutete den Triumph der Konfuzianer, denn die von diesen propagierten Werte wurden zu Normen auch des kodifizierten Rechts. Ohne zu übertreiben, kann man daher von einer Konfuzianisierung des chinesischen Rechts sprechen, dem damit stets moralische Überzeugungen zugrunde lagen. Dass es eine Trennung geben könnte von Gerechtigkeit und Recht, ist Chinesen nie in den Sinn gekommen.
Allen inneren Krisen und Konflikten zum Trotz funktionierte das chinesische Rechtssystem, bis sich China im 18. Jahrhundert von militärisch weit überlegenen Fremden bedroht sah, die ein völlig anderes Werte- und Rechtssystem besassen und bei denen daher die gewohnten Strategien zur Konfliktvermeidung und Konfliktlösung versagten: Europäer wie Chinesen gingen ganz selbstverständlich davon aus, dass es gar kein anderes als ihr jeweils eigenes Rechtssystem gebe. Sie erwarteten daher vom jeweils anderen, dass er sich an Regeln hielt, die dieser gar nicht kannte. Die Folge war ein Konflikt der Zivilisationen, der noch heute andauert. Voraussetzung für eine Lösung dieses Konflikts ist, dass beide Seiten sich der Ursprünge des fremden wie des eigenen Rechtssystems bewusst werden.
Ein flüchtiger Blick auf die Landkarte genügt, um zu erkennen, dass die naturräumlichen Gegebenheiten Westeuropas sich grundsätzlich von denen Chinas unterscheiden: Rom, die Wiege westlichen Rechts, war ein winziger Punkt auf einer Halbinsel mitten im Mittelmeer und kein weiträumiges, von riesigen Flusssystemen durchzogenes Siedlungsgebiet sesshafter Bauern. Wahrscheinlich im 7. Jahrhundert v. Chr. durch den Zusammenschluss mehrerer kleiner Siedlungen entstanden, war die Stadt am Tiber von Anfang an Treffpunkt von Angehörigen unterschiedlicher Kulturen: Latinern, Etruskern und Sabinern. Damit zeigt sich bereits ein für die gesamte römische Zivilisation konstitutives Element: die Offenheit gegenüber anderen Kulturen und die Bereitschaft, diese zu integrieren. Gefördert wurde dies nicht zuletzt dadurch, dass Rom verkehrsgünstig an einer Furt lag, so dass zu Ackerbau und Viehzucht ein schwunghafter Handel kam, der Kontakte zu Angehörigen weiterer Kulturen mit sich brachte. Und auf der Apenninenhalbinsel lebten damals zahlreiche kulturell eigenständige Stämme, deren bedeutendster, die Etrusker, ausgesprochene Städter waren. Die etwa Ende des 9. Jahrhunderts vermutlich aus Kleinasien eingewanderten Etrusker waren es denn auch, die den stärksten Einfluss auf Rom ausübten. Vor allem aber stellten sie die ersten Herrscher: Etruskische Fürsten regierten die aufstrebende Stadt, bis im Jahr 510 v. Chr. - Konfuzius war damals 41 Jahre alt - die Alleinherrschaft des rex beendet und durch eine Adelsherrschaft ersetzt wurde.
Nun hatte Rom seine erste republikanische Verfassung, welche die einst uneingeschränkte Macht des Königs auf zwei gleichgestellte Konsuln verteilte und zudem auf ein Jahr beschränkte. Hinzu kam als drittes Mittel der Machtbegrenzung die Übertragung der sakralen Funktionen auf einen Opferkönig (rex sacrorum) und damit die Trennung von staatlichen und sakralen Funktionen - ein unvorstellbarer Vorgang für das klassische chinesische Staatsverständnis, demgemäss die Herrschaft des Himmelssohnes gerade dadurch sakral legitimiert ist, dass er die kosmische Ordnung und mit ihr auch die Harmonie der menschlichen Gesellschaft erhält. Woraus freilich umgekehrt folgt, dass der Kaiser, wenn diese Harmonie gestört ist, dafür verantwortlich ist und das «Mandat des Himmels» verliert.
Aber schon vor der Republikzeit, noch unter dem etruskischen König Servius Tullius (578 bis 534), hatte es in Rom eine Reform gegeben, über die, hätte er davon erfahren, Konfuzius, für den die Familie Urzelle wie Urbild des Staates in einem war, gewiss entsetzt gewesen wäre: Im Zuge einer Heeresreform hatte Servius neue Methoden zur Klassifizierung der Bürger Roms eingeführt, die das Vermögen zur Voraussetzung für die Verleihung der Bürgerrechte machte, wodurch die Zugehörigkeit zu einzelnen Geschlechtern wie auch zu bestimmten ethnischen Gruppen an Bedeutung verlor. Das schwächte zwar die Rolle der Familien und auch der Volksgruppen, stärkte aber die Identifizierung des Einzelnen mit dem Staat über alle familiären und ethnischen Grenzen hinweg und verlagerte die Macht weg von einzelnen Gruppen hin zu institutionalisierten Versammlungen wie Senat, Magistrat und Komitien.
Wie immer barg auch diese Lösung eines Problems den Samen eines neuen, denn das neue timokratische System, das die Bürgerschaft über familiäre und ethnische Grenzen hinweg einte, spaltete zugleich auf Grund ihres unterschiedlichen Mitspracherechts in die Schicht der Herrschenden, den Altadel der reichen Patrizier, und die Schicht der von der Herrschaft ausgeschlossenen Plebejer. Die Folgen waren innere Spannungen, die sich wiederholt gewaltsam entluden.
Der Gegensatz zwischen der Plebs und den Patriziern verschärfte sich, bis sich die Patrizier gezwungen sahen, eine Kommission von zehn Männern (decemvirn) zu beauftragen, für die Lösung der drängendsten Probleme Regelungen zu finden und diese schriftlich zu fixieren. So kam es um 450 v. Chr. zur ersten Kodifikation des römischen Rechts in Gestalt der Zwölftafelgesetze (Leges duodecim tabularum).
ARCHETYPEN
Im Gegensatz zu dem 86 Jahre zuvor im Staate Zheng verfassten Kodex des Li Chan handelte es sich hier nicht um Erlasse eines Einzelnen, sondern um das Werk eines rechtsetzenden Kollektivs, einer von den damaligen Verfassungsorganen legitimierten gesetzgebenden Versammlung. Hinzu kommt, dass die Gesetze nicht wie in China dem Blick der Öffentlichkeit entzogen auf einem Sakralgefäss festgehalten, sondern auf zwölf Tafeln auf dem Forum aufgestellt wurden, so dass jedermann sie lesen konnte. Das bedeutete Rechtssicherheit. Ein dritter wichtiger Unterschied zum «Buch der Strafen» ist, dass die Zwölftafeln neben Strafgesetzen bereits Bestimmungen des Zivilrechts (ius civile) enthielten.
Die beiden ältesten, in Bronze gegossenen Zeugnisse kodifizierten Rechts in China und im Westen sind somit gleichsam Archetypen der bis heute prinzipiell unterschiedlichen Rechtssysteme der beiden Zivilisationen: Das Xingshu, von den Herrschenden erlassen, diente der Disziplinierung der Menschen mittels Strafandrohung. Der Zweck der Zwölftafelgesetze hingegen war der Schutz der Plebs vor der Willkür der Patrizier.
Alles in allem handelt es sich bei den Zwölftafelgesetzen, welche die patriarchalische, alles andere als demokratische Gesellschaftsstruktur des damaligen Rom widerspiegeln, um archaisches Recht in erstaunlich «modernem» Gewand. Der römische Begriff der lex, des Gesetzes, ist unlösbar verknüpft mit dem Begriff des ius, des Rechts, und dem den Bereich der Rechtsprechung bezeichnenden Sammelbegriff der iudicia. Alle drei zusammen sind das, was alle Bürger einer Stadt oder eines Staates miteinander verbindet: Die Dreieinigkeit aus lex, ius und iudicia bildet die eigenständige, streng formalistisch geregelte, Herrscher wie Beherrschte bindende Rechtsordnung. Mit dem moralischen Begriff der Gerechtigkeit, der iustitia, hat diese nur mittelbar etwas zu tun.
Diese allem nichtwestlichen Denken fremde Trennung von Recht und Gerechtigkeit, von Moral und Gesetz liess in Rom einen eigenen Berufsstand entstehen, den des Rechtsberaters (iuris consultus), und machte die Rechtsgelehrtheit zur Rechtswissenschaft. Womit im Westen eben das eingetreten ist, wovor Shu Xiang und nach ihm Konfuzius und die Konfuzianer im Osten gewarnt hatten: Die Menschen beriefen sich auf das geschriebene Wort anstatt auf die Regeln der Moral und argumentierten vor Gericht auf die spitzfindigste Weise. Rechtsstreite wurden zu einem wesentlichen Merkmal der römischen Kultur und später der gesamten westlichen Zivilisation.
Das römische Recht war also ein Juristenrecht. Es wurde ständig weiterentwickelt und den rasch wechselnden Umständen angepasst, wobei die Zwölftafeln Leitfaden und Arbeitsmaterial für den Berufsstand der Juristen blieben bis zum Untergang des weströmischen Reiches im Jahr 476 n. Chr. und dem Zusammenbruch der antiken Welt infolge der Völkerwanderung. Ausgelöst hatte die Wanderung der gotischen Stämme in Richtung Westen der Ansturm eben jener Reitervölker aus den Tiefen der mittelasiatischen Steppen, die einst am entgegengesetzten Ende der eurasischen Landmasse das Volk der Han dazu gebracht hatten, ihr Reich durch den Bau der Grossen Mauer nach Westen hin abzuschirmen.
Zur gleichen Zeit, als infolge des Ansturms der Hunnen das weströmische Reich zerbrach, wurde auch Nordchina von denselben kriegerischen Nomadenvölkern überrannt und grossenteils zerstört. Doch wurden die Eroberer im Reich der Mittel nahezu vollkommen assimiliert. Das traditionelle chinesische Sozial- und Rechtssystem blieb dadurch weitgehend intakt. Anders in Europa, denn hier verlor mit dem Ende des tausendjährigen römischen Reiches auch dessen Rechtssystem seine Funktionsfähigkeit. Den Germanen war ein Recht im Sinne von ius nicht weniger fremd als den Chinesen. Die Folge war, dass das römische Recht jahrhundertelang vom «Recht» der germanischen Stämme überlagert und verdrängt wurde - bis es im 12. Jahrhundert wieder aufgegriffen wurde und zur Grundlage der Dominanz des Westens auf dem gesamten Globus wurde.
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