Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Freitag, 05.05.2000 Nr.104 66
In alter Grösse
Wiedergeburt der Bibliotheca Alexandrina
Zweitausend Jahre lang war die Bibliothek von Alexandrien Legende; nun soll das in Ägypten gelegene Zentrum antiker Gelehrsamkeit in neuer Gestalt wiedererstehen. Seit 1995 sind Tausende von Arbeitern an dem 40 000 Quadratmeter überspannenden Bauprojekt beschäftigt, in das bis anhin über 200 Millionen Dollar investiert wurden.
Die Vereinten Nationen haben sich durch die Unesco an der Finanzierung des Vorhabens beteiligt. Die bauliche Gestaltung übernahm das norwegische Architekturbüro Snøhetta, während Deutschland die Katalogisierungs- und Dokumentationssysteme beisteuerte. Norwegen stiftet die Einrichtung der Lesesäle und Italien die Laborausrüstung, welche zur Restauration antiker Schriftrollen gebraucht wird. Frankreich kommt für die Informationssysteme auf, zudem schenkte die Bibliothèque Nationale der jungen Institution über 2000 Bücher, die früher zu den Beständen des französischen Instituts für orientalische Archäologie und der Bibliothèque Ancienne de Versay gehört hatten.
Die Bibliothek von Alexandrien, im vierten Jahrhundert v. Chr. gegründet, verfügte in der Antike über die grösste und berühmteste Sammlung von Schriftrollen. Sie wurde von herausragenden Gelehrten verwaltet, und man bemühte sich um eine Kopie jeder damals bekannten bedeutenden Schrift; die Bestände beliefen sich auf über 700 000 Dokumente. Der Grossteil dieser imposanten Institution wurde im Jahr 47 v. Chr. während des Alexandrinischen Krieges durch einen Brand zerstört.
Die neue Bibliotheca Alexandrina soll 3500 Lesern Platz bieten. Sie umfasst ein wissenschaftliches Museum, ein Ausbildungs- und ein Kongresszentrum und ein eigenes Verwaltungsdepartement. Ihre Bestände - 4 bis 8 Millionen Bücher, 100 000 Manuskripte, 50 000 Karten sowie 200 000 Ton- und 50 000 Bildträger - sollen elektronisch zugänglich und mit neuesten Technologien erschlossen sein. Unglücklicherweise fehlen aber Raritäten aus alter Zeit, wie etwa die halbe Million von Papyri, welche sich mit den öffentlichen Saunen und Bädern befassten: der gottesfürchtige Kalif Omar liess sie im 7. Jahrhundert vernichten, weil er befand, alles Wissenswerte sei im Koran enthalten.
Heute erhebt sich die angeschnittene Kreisform der neuen Bibliotheca Alexandrina wie ein fast voller Mond am Ufer des Mittelmeers. Kann die Eröffnung plangemäss stattfinden, dann wird dieses neue Gestirn am Horizont des Geistes im kommenden Frühling ganz aufgehen.
Wadi Saadah
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