Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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Neue Zürcher Zeitung ZEITFRAGEN Samstag, 29.01.2000 Nr.24 97
Aus Eingeweiden die Zukunft lesen
Orakel im alten Orient, im Mittelmeerraum und in Indonesien
Von Judith Rickenbach, Archäologin*
Kein anderes divinatorisches Verfahren war im alten Mesopotamien so wichtig wie die Leberschau. Bereits um die Mitte des 3. Jahrtausends v.Chr. wurde durch eingehende Untersuchung von Schafslebern der Wille der Götter erfragt. Später genoss die Leberschau nicht nur im antiken Griechenland, sondern im ganzen Mittelmeerraum hohes Ansehen. Noch heute wird in einzelnen Kulturen diese Art der Zukunftsschau praktiziert. So werden bei den Mentawaiern in Indonesien Eingeweide von Tieren inspiziert, um anhand des Verlaufs von Fettsträngen und Blutgefässen die nähere Zukunft zu erfragen.
Die Gottheiten hatten gemäss altorientalischer Vorstellung den Kosmos geschaffen. Alles, was auf Erden geschah, ging von ihnen aus. Diese Allmacht der Götter weckte den Wunsch, ihre Absichten zu erfahren. Phänomene am Himmel und in der Natur galten als Hinweise auf den göttlichen Willen, die mit Hilfe bestimmter Techniken gedeutet werden konnten. Nur der Wahrsager, der barû, als Mittler zwischen den Göttern und den Menschen war imstande, diese Zeichen wahrzunehmen und zu interpretieren.
Mit Hilfe verschiedener Divinationstechniken versuchte man überdies gezielt, Mitteilungen der Götter über künftige Ereignisse zu erfragen. Dabei kam der Leberschau die grösste Bedeutung zu. Die Leber galt als wichtiges Organ des Denkens und des Fühlens. Wegen ihrer Grösse und ihrer hochdifferenzierten Topographie eignete sie sich vorzüglich für das Orakel. Die Leber wurde aus dem Opferschaf herausgenommen, aber nicht zerlegt. Der Wahrsager untersuchte ausschliesslich ihre Oberfläche nach Form und Farbe, nach vorhandenen Anomalien, um daraus die entsprechenden Schlüsse für sein Wirken zu ziehen.
Früh dokumentiertes Ritual
Die Leberschau ist inschriftlich bereits für die Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. nachweisbar und galt als eine Kunst, welche die beiden Götter Samas und Adad den Menschen weitergegeben hatten. Sie wurde von einem professionellen Wahrsager, dem barû, durchgeführt. Voraussetzung für dieses Amt waren körperliche Unversehrtheit und priesterliche Herkunft. Die Leberschau hatte sakralen Charakter und war in ein komplexes Ritual eingebettet. Der barû eröffnete die Orakelhandlung mit einem beschwörenden Gebet, in dem er Samas, den Sonnen- und Richtergott, der gleichzeitig als Schutzherr des Orakelwesens galt, und Adad, den Gott des Gebets und der Opferschau, anrief. Er forderte Samas auf, in das Opferschaf einzutreten und die Antwort auf die gestellte Frage auf die Leber zu schreiben.
Der Opferschaupriester begann die Leberschau mit dem linken Leberlappen. Dort befindet sich eine natürliche augenlidförmige Furche. Durch diese konnte der Blick der Gottheit, nachdem der Priester im Opferschaugebet darum gebeten hatte, in die Leber eindringen. Die Gottheit war nun in der Leber gegenwärtig und blickte durch diese Furche auf den barû. Das Orakel war möglich. So wird festgehalten: «(Die Leber) hat einen Blick.» In einer Leber ohne «Blick» war die Gottheit nicht gegenwärtig. Eine solche Leber konnte nicht verwendet werden für das Orakel. Samas hatte in diesem Fall die Kommunikation mit dem Fragesteller verweigert. Die rechte Seite war bei jedem einzelnen Leberteil die verheissungsvolle, günstige und die linke die feindliche, ungünstige Seite. Die festgestellten Befunde konnten eine gute, schlechte oder auch widersprüchliche Bedeutung haben. Offensichtlich wurden als Abschluss der Wahrsagehandlung die günstigen und ungünstigen Befunde addiert. Das Ergebnis erscheint in den Opferschautexten als Schlussvermerk: «Das Orakel ist günstig», «Das Fleisch ist ungünstig» oder «Das Fleisch sagt nicht zu».
Seit Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. wurden derartige Opferschauberichte auf Tontafeln schriftlich fixiert. Durch Nennung des Namens der Person, für welche die Leberschau gemacht wurde, hatten die Texte Urkundencharakter und wurden in Bibliotheken oder in Archiven aufbewahrt. Überdies hielt man in «Lehrbüchern» für die Wahrsager die Anomalien der verschiedenen Leberteile fest. Zur Instruktion in die Kunst der Leberschau wurden auch Tonmodelle von Schafslebern angefertigt. Sie dienten zur Markierung bestimmter Krankheitsbilder und wurden als Anschauungs- und Lehrmaterial für angehende Wahrsager verwendet. Die bisher ältesten Lebermodelle können in das 19. Jahrhundert v. Chr. datiert werden und stammen aus der königlichen Sphäre, aus dem Palast von Mari in Syrien.
Die Leberschau im alten Griechenland
Mantik hiess im antiken Griechenland die Wahrsagekunst. Damit war speziell die auf Inspiration beruhende Weissagung gemeint, bei der ein Mensch in Ekstase oder Trance von den Göttern mitgeteiltes Wissen empfing. Das Wort leitet sich ab von mania (Wahnsinn, Ekstase) und deutet darauf hin, dass im alten Griechenland die auf Eingebung beruhende ekstatische Weissagung als wichtigstes und vielleicht verlässlichstes Verfahren galt, bei dem die Botschaft unmittelbar von einer Gottheit kam. Man kannte freilich auch die nach bestimmten Kunstregeln verfahrende Divination, bei der sich der Wahrsager auf die Beobachtung verschiedener Phänomene stützte, denn die Götter - so glaubte man - offenbarten ihren Willen in aussergewöhnlichen Zeichen.
Am häufigsten beobachtete man lebende oder tote Tiere. Insbesondere die Interpretation des Vogelflugs, eine vorderorientalische Technik, war für das Verständnis des Götterwillens aufschlussreich. Ebenfalls aus dem Vorderen Orient stammte die Opferschau, die Homer (8. Jahrhundert v. Chr.) in der «Ilias» und in der «Odyssee» erwähnt. Von besonderer Bedeutung war die Leberschau, die Hepatoskopie, die an einem frisch geschlachteten Opfertier vorgenommen wurde.
Belege für Kulturkontakte
Sowohl literarisch als auch ikonographisch gut bezeugt ist die Leberschau im Zusammenhang mit der Kriegsführung. Bei dem griechischen Geschichtsschreiber Herodot (5. Jh. v. Chr.) liest man beispielsweise: «Dieser Teisamenos also hielt damals bei Plataiai für die Hellenen unter Führung der Spartiaten das Opfer ab. Das Opferorakel lautete günstig für den Fall, dass sie sich verteidigten, aber ungünstig für den Fall, dass sie den Asopos überschritten und angriffen. Mardonios, der gerne angegriffen hätte, erhielt ebenfalls kein günstiges Opferorakel, aber für den Fall der Verteidigung war es auch ihm günstig.»
In der griechischen Vasenmalerei widerspiegelt sich die Leberschau auf anschauliche Weise: Vor gerüsteten Kriegern mit Helm und Schild steht ein nackter Jüngling, der mit beiden Händen eine Leber vor sich hält, die von den Kriegern begutachtet wird, um sich zu vergewissern, dass die Zeichen günstig sind und die Unternehmung von Erfolg gekrönt sein wird. Bemerkenswert ist die Übereinstimmung zwischen der altorientalischen und der griechischen Terminologie in der Hepatoskopie. Hier wie dort hatte die Leber beispielsweise ein «Tor», einen «Kopf», einen «Pfad» und einen «Fluss». Ebenso existierten in beiden Kulturen verheissungsvolle und feindliche Bereiche auf der Leber. Die Verbreitung der Hepatoskopie im alten Griechenland ist einer der deutlichsten Beweise für den kulturellen Kontakt zwischen Ost und West in früher Zeit. Reisende Wahrsager dürften dieses Wissen von Mesopotamien nach Griechenland gebracht haben.
Auch die Etrusker verstanden das Wirken der Gottheiten als allgegenwärtig und für das Schicksal bestimmend. Nach etruskischer Lehre äusserten die Gottheiten ihren Willen durch Zeichen. Alles hatte seinen Sinn, alles bedeutete etwas, aus allem liess sich eine Voraussage machen. Voraussetzung dafür war die gewissenhafte Beobachtung dieser göttlichen Zeichen. Dazu gehörten die Untersuchung der Eingeweide bestimmter Tiere, vor allem von Schafen, sowie die Deutung von Blitzen. Es war die Aufgabe der sich aus einflussreichen Familien der etruskischen Stadtstaaten rekrutierenden Priesterschaft festzustellen, von welcher Gottheit das Zeichen kam und was es bedeutete. Die disciplina etrusca, ein Komplex von Verhaltensnormen, regelte das Verhältnis zwischen den Gottheiten und den Menschen. Hüter der disciplina etrusca und damit auch Wahrsager, Ausführer der Kulthandlungen und Vollstrecker des Götterwillens war der netsvis, der lateinisch haruspex genannt wurde. Die haruspices waren Spezialisten nicht nur für die Eingeweideschau, sondern auch für die Deutung der Blitze und wohl für die Zeichendeutung schlechthin.
Für die Etrusker galt die Leber als Sitz des Lebens. Das Wirken einer bestimmten Gottheit machte sich durch Abweichungen vom Normalzustand an der Oberfläche der Leber eines frisch geopferten Schafs bemerkbar und konnte vom Priester gedeutet werden. Die Leberschau war offenbar der zentrale und spezifischste Teil der etruskischen Wahrsagekunst. In der Weltsicht der Etrusker entsprach der Himmel einem imaginären Kreis, der in insgesamt 16 gleich grosse Felder unterteilt war und von den verschiedenen Gottheiten «bewohnt» wurde, die von dort aus auf das irdische Leben einwirkten.
Modell zu Ausbildungszwecken
Die berühmte «Bronzeleber von Piacenza» ist eine Nachbildung einer Schafsleber und war offenbar ein Lehrmodell für etruskische haruspices. Ihre einzigartige Bedeutung besteht darin, dass sie die erwähnte etruskische Himmelseinteilung in 16 Göttersitze zu rekonstruieren hilft. Der äussere Rand der Bronzeleber sowie die übrige Oberfläche sind in einzelne Felder unterteilt und mit Namen von Gottheiten beschriftet. Demnach war die gesamte Leber von göttlichen Wesen «bewohnt», wobei die Anordnung der Götter nach einem klaren Schema erfolgte: Im nordöstlichen Viertel lagen die Wohnsitze der höchsten Himmelsgottheiten, in den beiden südlichen Vierteln die Sitze der Gottheiten der Natur und der Erde, während im nordwestlichen Viertel, das als unheilvoll galt, die Gottheiten der Unterwelt angesiedelt waren. Die Zukunftsdeutung beruhte auf der Einteilung des Himmels in genau definierte Regionen, in denen die verschiedenen Götter ihren Sitz hatten und von wo aus sie ihre Zeichen den Menschen sandten. Abweichungen vom Normalzustand auf der Leber bedeuteten, dass sich nun der in der entsprechenden Himmelsregion wohnende Gott offenbarte.
In Rom wurde die Ausübung der disciplina etrusca wohl im Anschluss an die Eroberung Etruriens im 3. Jahrhundert v. Chr. eingeführt in Form eines Kollegiums von 60 Mitgliedern. Ob dieser inschriftlich und literarisch bezeugte ordo LX haruspicum auf Veranlassung der Römer gegründet wurde oder ob die Etrusker sich selbst organisierten, ist nicht geklärt. Etruskische haruspices wurden noch in der Kaiserzeit bei wichtigen Staatsopfern zugezogen. Die Untersuchung der Eingeweide von Tieren sowie auch die Deutung der Blitze hatten Vorläufer in der orientalischen, besonders in der mesopotamischen Welt.
* Die Autorin ist Kuratorin für die Kulturen Alt-Amerikas und des Mittelmeerraums am Museum Rietberg in Zürich. Der Text ist die gekürzte Version ihres Beitrags im Katalog zur Ausstellung «Orakel - Der Blick in die Zukunft» (bis 20. Februar).
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