Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
Klassische Sprachen |
Text-Quelle:
NZZ, Ausgabe vom 26.06.1999 Nr. 145 86
Römisches Tafelgeschirr als Industrieprodukt |
Die antike Wirtschaftsentwicklung im
Spiegel der Terra sigillata
Von Katrin Roth-Rubi
Die Abhängigkeit geschichtlicher
Betrachtungen vom Gegenwartsgeschehen ist hinlänglich bekannt;
beim Rückblick auf die archäologische Forschung zur
römischen Keramik, insbesondere zum Tafelgeschirr, im
Verlauf des 20. Jahrhunderts erstaunt aber doch die enge
Verquickung von zeitgenössischen, historischen Etappen mit
Forschungsfragen, die sich einem Zweig
der antiken Wirtschaftsgeschichte widmen.
Geschichtliche Abläufe werden in der historischen Forschung zur Neuzeit vor allem aus Geschriebenem erschlossen; Sachgüter dienen als bebildernder Hintergrund, gelegentlich als Bestätigung, als Wegmarken. In Zeiträumen, in denen die Schriftquellen spärlich fliessen oder versagen, erhält die materielle Hinterlassenschaft hingegen einen anderen Stellenwert; sie hat die geschriebene Überlieferung zu ersetzen. Die Archäologie entwickelte Methoden, um dieser Forderung soweit als möglich nachzukommen. Die Sachquellen haben den Vorteil, in sich neutral zu sein; sie heben sich dadurch vom Wortzeugnis ab, das von einem Subjekt ausgeht und entsprechend zu hinterfragen ist. Die Objektivität der Dinge selbst darf aber nicht dazu verleiten, die ihnen entnommenen Aussagen als unabhängige, feststehende Tatsachen zu bewerten. Sie sind historische Betrachtungen, damit immanent zeitabhängig und einem laufenden Wandel unterworfen. Wie sehr die grossen politischen Veränderungen in unserem Jahrhundert sogar die historischen Forschungen zur römischen Kaiserzeit prägen, kann am Paradigma des römischen Tafelgeschirrs aufgezeigt werden.
WEITUNG DES RAUMES
Das Beispiel wird hier anlässlich der 21. Versammlung von Spezialisten für römische Keramik, der «Rei cretariae romanae Fautores»-Vereinigung, aufgerollt. Dieser Gelehrten-Verbund wurde 1957 von der Doyenne der Schweizer Forschung, Elisabeth Ettlinger (Zürich), und einigen Kollegen in Brugg, dem antiken Vindonissa, gegründet; der Verein umfasst heute annähernd 400 Mitglieder aus 32 Nationen. Seit vier Jahrzehnten trifft man sich in zweijährigem Abstand zum wissenschaftlichen Austausch in der Umgebung eines antiken Keramikzentrums. Während Jahren bewegte man sich mehrheitlich im Raum der antiken römischen Provinzen Gallien, Germanien, Britannien; mit den ersten Annäherungen des Ostblockes an den Westen luden Ungarn, Jugoslawien und Bulgarien ein, 1994 war Rumänien das Gastland. Nun verliess man zum ersten Mal den europäischen Teil des Römischen Reiches. Die Tagung wurde im kleinasiatischen Ephesos (beim heutigen Selçuk, Türkei) durchgeführt, organisiert vom Österreichischen Archäologischen Institut, das seit hundert Jahren für die Erforschung der einst blühenden Hauptstadt der Provinz Asia zuständig ist.
Obschon der weitergreifende Radius einer allgemeinen Entwicklung des heutigen Tourismus entspricht, liegen die Beweggründe in diesem Fall auf einer ganz anderen Ebene. Triebfeder ist das wachsende Bedürfnis, die bestehenden Vorstellungen zu Produktion und Handel im Römischen Reich in den zwei Jahrhunderten vor und nach der Zeitenwende neu zu sichten und zu überprüfen. Es besteht kein Zweifel, dass dieses Bedürfnis in Zusammenhang mit dem heutigen Ringen um «Europa», mit Betriebsverlagerungen und dem Verschieben von Zentren steht. Die gegenwärtigen Vorgänge haben die Forschung zur antiken Wirtschaftsgeschichte für ähnlich gelagerte Abläufe in römischer Zeit sensibilisiert. Als Quellenmaterial wird, wie erwähnt, das antike Industrieprodukt Terra sigillata genutzt.
RÖMISCHES TAFELGESCHIRR
Bereits die Humanisten wussten aus Plinius und von Isidor von Sevilla, dass die Römer aus rotem Geschirr - vasa rubra - assen und dass dieses in grossen Zentren, so in «Arretium (Arezzo), Surrentium, Hasta, Pollentia, Saguntum», auf der Insel Samos, in der Provinz Asia in Pergamon und Tralles (heute Ayden) hergestellt wurde. Mit wachsendem Interesse an den antiquarischen Gegenständen identifizierten im 17. Jahrhundert italienische Gelehrte rottonige Gefässe mit einem seidig glänzenden Überzug aus dem Boden ihrer Umgebung als das von Plinius erwähnte Ess- und Trinkgeschirr.
In Ermangelung einer spezifischen Bezeichnung in den antiken Schriftquellen schufen sie den Begriff Terra sigillata, gestempelte Ware, nach den eingepressten Töpfermarken im Inneren der Gefässe. Grabungen im Stadtzentrum von Arezzo ab 1883 brachten den Nachweis, dass hier ausgedehnte Werkstätten aus der Zeit des Augustus (27 v. Chr. - 14 n. Chr.) lagen. Es fiel auf, dass die Gefässformen ausserordentlich standardisiert und in Sätzen stapelbar waren; offensichtlich kamen riesige Mengen gleichartigen Geschirrs auf den Markt. Die arretinische Sigillata besitzt damit die wesentlichen Merkmale einer industriellen Ware.
Das Geschirr trägt, wie erwähnt, Manufakturabzeichen, und zwar mit doppeltem Namen: einerseits demjenigen des Töpfereibesitzers und andererseits dem des ausführenden Töpfers, der meist ein Sklave war. Gewisse Sklaven übernahmen als Freigelassene in einem späteren Zeitpunkt die Betriebe ihres ehemaligen Patrons, ein Ablauf, der wohl meist mit dessen Tod in Verbindung zu bringen ist. Anhand dieser Töpferstempel können somit ganze Firmengeschichten nachgezeichnet werden. Den Nutzen dieses Namensmaterials aus Arezzo erkannte und fruktifizierte in erster Linie die deutsche Forschung. Mit der Jahrhundertwende kamen nämlich am Rhein aufwendige archäologische Unternehmen in Gang, gefördert von nationalistischen Anliegen des jungen deutschen Kaiserreiches; die Militärlager, die Augustus mit seinen Legionen ab 12 v. Chr. zur Eroberung von Germanien angelegt hatte, wurden grossflächig ausgegraben und das Fundmaterial veröffentlicht. Es entstanden Grundlagenwerke, die die Forschung nachhaltig prägten. Methodisch waren die Pioniere der provinzialrömischen Archäologie dem Positivismus verpflichtet, ausgestattet waren sie mit dem Rüstzeug einer enzyklopädischen Kenntnis des antiken Schrifttums. Die Terra sigillata bildete den besten Tragpfeiler der archäologischen, sachgebundenen Argumentation; man sah bald, dass die arretinischen Werkstätten die Hauptlieferanten für das germanische Heer waren. Die Verknüpfung der namentlich bekannten Töpferfirmen mit den historisch überlieferten Daten der Eroberungszüge im Norden ermöglichte ein chronologisches Gerüst, das wiederum für das Geschirr genutzt und auf andere Fundplätze übertragen werden konnte. So vertiefte sich die Sigillata-Forschung nicht an der Produktionsstätte im Mutterland Italien, sondern an den Absatzorten in den Nordprovinzen.
EIN LEBENDIGER MARKT
Standen bis zum Zweiten Weltkrieg Fragen der Chronologie im Vordergrund, so wendete sich danach das Interesse vermehrt handelsgeschichtlichen Bereichen zu, geweckt durch eine Neuorientierung der Wirtschaft nach dem Krieg und die wachsende Mobilität. Das 1968 erschienene Korpus der arretinischen Töpferstempel, das die ganze antike Welt erfasst, ermöglichte Karten zur Verbreitung von einzelnen Töpfer- und Firmennamen. In ihnen widerspiegeln sich Handelsrouten und -verbindungen, bevorzugte Märkte einzelner Manufakturen, Konkurrenzsituationen, kurz: die Muster eines lebendigen Marktes, der im Umfeld von Industrieerzeugnissen entsteht. Allerdings entsprechen solche Karten mit ihren zwangsweisen Lücken einer Gleichung mit vielen Unbekannten und erfordern eine Auslegung.
Als man um 1970 in Lyon, dem antiken wirtschaftlichen Zentrum Lugdunum, Töpferwerkstätten entdeckte, die Terra sigillata in gleicher Qualität, mit gleichem Formenrepertoire und mit identischen Firmennamen wie die arretinischen Manufakturen produziert hatten, war man konsterniert. Von blossem Auge lassen sich die Unterschiede zwischen den beiden Waren kaum ausmachen, es bedarf naturwissenschaftlicher Analysen. Man musste zur Kenntnis nehmen, dass die Sigillata in den Rheinlagern nicht nur aus Arezzo, sondern zu einem guten Teil aus den näher gelegenen Lyoner Töpfereien stammten. Wie hatte man sich das Verbindungssystem zwischen Mutterhaus und Filialbetrieb über Hunderte von Kilometern hinweg vorzustellen, wie funktionierte die synchrone Entwicklung der Gefässformen, wie wurde abgerechnet, wie wurden die Märkte aufgeteilt? Diese und weitergreifende Fragen beschäftigen seither die Spezialisten.
Die Vorstellung einer linearen Entwicklung der frühen sigillata an einem zentralen Ort in Italien, wie sie die deutschen Gelehrten am Anfang des Jahrhunderts geschaffen hatten, musste aufgegeben werden. An ihre Stelle trat ein komplexer Problemkreis, in dem vieles unsicher war, was vorher festgestanden hatte. Es mag Zufall sein, dass dieser Bruch mit den etablierten Thesen in die Zeit nach den 68er Jahren gefallen ist; die Bereitschaft zur Überprüfung, zu neuen Denkansätzen und Deutungen kam jedenfalls der Zeitströmung entgegen. Bis heute wird nun versucht, die strukturellen und wirtschaftlichen Mechanismen zwischen Italien und den Nordprovinzen zu erhellen; die Erkenntnisschritte sind klein geworden, weil Vorsicht und Skrupel gewachsen sind und wissenschaftliche Begründung jetzt, am Ende des Jahrhunderts, hohe Anforderungen stellt.
FORMENREPERTOIRE
Die jüngste Zeit hat zudem eine Ausweitung und damit eine Verlagerung der Forschungsschwerpunkte gebracht. Rotes Essgeschirr war keine Erfindung der Römer. Nachdem das Tafelgeschirr in der Zeit Alexanders des Grossen und der zwei nachfolgenden Generationen mit einem schwarzen Überzug versehen worden war, stellte man im 2. vorchristlichen Jahrhundert im Osten der antiken Welt vereinzelt und in wachsendem Ausmass Keramik mit einem roten Glanztonüberzug her. Technisch bereitete dieser Wechsel keine Schwierigkeiten; es war seit Jahrhunderten bekannt, dass der fein geschlämmte Tonüberzug, wie ihn bereits die Vasenmaler im klassischen Athen verwendeten, sich rot färbte, wenn am Ende des Brennvorganges Luft zugeführt wurde.
Eine Änderung des Geschmacks mag den Wechsel von schwarzem zu rotem Geschirr bewirkt haben, wir kennen keine andere Ursache. Die roten Gefässe waren vorerst formal an das Herkömmliche gebunden, entwickelten sich aber innerhalb kurzer Zeit zu einer eigenständigen Gattung, die Ost-Sigillata genannt wird. Sie hat den Impuls gegeben, dass auch in Italien ab der Mitte des 1. Jh. v. Chr. erstmals rotes Geschirr hergestellt wurde. Die Töpfereien in Arezzo haben dann schnell ein Formenrepertoire kreiert, in dem das italienisch-römische Stilempfinden zum Tragen kam; der Aufbau der eigentlichen Industriestrukturen erfolgte alsbald. Die arretinischen Produkte beherrschten nicht nur den erwähnten Markt im Westen, sondern beeinflussten auch die Situation im Osten. Ihre Dominanz ging so weit, dass die angestammten Töpfereien in Kleinasien und der Levante ihre Gefässformen den italienischen anzugleichen begannen.
Nach Ausweis der Stempel haben auch römische Bürger in Kleinasien Töpfereien betrieben; namentlich sticht ein Gaius Sentius heraus. Er unterhielt neben seinem Stammhaus in Arezzo Filialen sowohl in Lyon wie auch in Ephesos, tatsächlich ein Multinationaler nach modernen Massstäben. Leute seiner Art haben mit ihrer unternehmerischen Kraft die italienisch-römische Kultur in alle Teile des Imperium Romanum getragen. In kurzer Zeit entwickelte sich reichsweit eine Uniformität des Tafelgeschirrs, wie sie in der Folge bis heute nie mehr erreicht worden ist.
Im skizzierten Ablauf steht Italien stets direkt oder indirekt im Mittelpunkt des Entwicklungsgeschehens. Die Forschungsinteressen der europäischen Wissenschafter drehten sich in Fortsetzung der Arbeiten zu Beginn unseres Jahrhunderts bis in jüngste Zeit um Handel und Wirtschaftsgefüge im Gebiet der Westprovinzen und um die Impulse, die von Mittelitalien nach dem Osten ausgesendet worden sind.
HEUTIGER FORSCHUNGSSTAND
Die Ereignisse von 1989 haben nun die Möglichkeit geschaffen, die Blickrichtung zu ändern. Kollegen in den Donauprovinzen haben ihr reiches Fundmaterial ausgebreitet; die Zusammenhänge mit der Töpfertradition in Kleinasien und der Levante wurden sofort ersichtlich. Dabei ist ins Bewusstsein getreten, wie gering die Kenntnis über die Werkstätten der Ost-Sigillata ist. Das Fehlen von Vorlagen sorgfältig aufgearbeiteten Fundstoffes aus einzelnen Ausgrabungsorten, von gesicherten Formverzeichnissen aus einer Region, von Kartierungen der Erzeugnisse einzelner Manufakturen sind nur einige Lücken, die den Rückstand der Forschung andeuten. Dieser Umstand verunmöglicht heute noch, nach Verlagerungen von Töpfereien in der Art der westlichen Filiationen zu suchen; man darf solche Expansion in Richtung Schwarzmeer-Gebiet und Donaudelta vermuten, wo nachweislich Terra sigillata in grossem Ausmass hergestellt wurde.
Allerdings steht völlig offen, ob die betrieblichen Organisationsmuster, die wir im Westen abstecken können, auch im Osten gebräuchlich waren. Eine neue Forschungsperspektive wird nach dem Einfluss der östlichen Manufakturen auf den Westen fragen. Hier wird ein Problemkreis angesprochen, der vieles in Bewegung bringen wird. Seine Erörterung wird erst die Voraussetzung schaffen, die wirtschaftlichen Dimensionen des Römischen Reiches in ihrer Ganzheit zu erfassen. Es brauchte den Fall des Eisernen Vorhanges und die Öffnung des Ostens, um das Phänomen des wirtschaftlichen Zusammenspiels in der frühen Kaiserzeit «bilateral» nachvollziehbar zu machen. Die Verschiebungen politischer und wirtschaftlicher Grenzen, wie sie in rasanter Kadenz in letzter Zeit durchgeführt wurden, liefern dem Althistoriker reale Modelle für vergleichbare Abläufe vor zweitausend Jahren. Wenn die Fautores-Vereinigung, quasi die Archivare der Geschichte der antiken Keramikfirmen, nun in Ephesos einen Augenschein genommen hat, ist es wiederum ein klares Zeichen, dass die Gegenwart das Vergangene stets wandelt.
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