Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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Text-Quelle:
NZZ, SICHERHEIT 99 Dienstag, 23.11.1999 Nr. 273 77 / B1
Von Damokles bis Medusa - rationale Sicht auf Risiken |
Vorschlag für ein verbessertes Risikomanagement |
Von Andreas Klinke und Ortwin Renn* |
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Beim Umbau einer historischen Textilfabrik lösen unvorsichtige Arbeiter einen Grossbrand aus. (Bild Reuters) |
Eine zunehmende Technisierung der Umwelt, höhere Siedlungsdichte sowie grössere Verwundbarkeit sozialer Systeme setzen immer mehr Menschen erhöhten Risiken aus. Durch eine Kombination wissenschaftlicher, technischer und sozialwissenschaftlicher Ansätze soll für eine effizientere Risikobewältigung ein integratives Risikokonzept geschaffen werden.
Technische und natürliche Risiken begleiten unser tägliches Leben. Kürzlich prallten in London zwei Personenzüge aufeinander, was mehreren Dutzend Menschen das Leben kostete. Und wer erinnert sich nicht an die Brandkatastrophe im Montblanc-Tunnel im Mai dieses Jahres, wo bei Temperaturen von 1200 Grad Celsius über vierzig Menschen verbrannten oder erstickten. Es sind nicht nur technische, sondern auch natürliche Gefahren, denen der Mensch ausgesetzt ist. Beim verheerenden Erdbeben im Nordosten der Türkei starben unlängst vermutlich 17 000 Menschen.
Höhere Siedlungsdichte, die zunehmende Technisierung der Umwelt und verstärkte Verwundbarkeit sozialer Systeme sind die wichtigsten Gründe, dass immer mehr Menschen erhöhten Risiken ausgesetzt sind. Um diesen Risiken effektiver als bisher begegnen zu können, sind eine disziplinenübergreifende Risikowissenschaft und ein angemessenes Risikomanagement erforderlich. So sind Gesellschaft und Politik angehalten, Risiken zu vermeiden, zu verringern oder zu beherrschen. Zu diesem Zweck hat der «Wissenschaftliche Beirat der Deutschen Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU)» in seinem Jahresgutachten 1998 ein integratives Risikokonzept entwickelt, das eine rationale Risikobewertung, eine neue Risikoklassifikation und daraus ableitbare Managementstrategien einschliesst. Ein integratives Risikokonzept erfordert die Kombination sowohl technisch-naturwissenschaftlicher als auch sozialwissenschaftlicher Ansätze. Die beiden Autoren dieses Beitrags haben massgeblich an der Entwicklung dieses Risikokonzepts mitgewirkt.
Um eine systematische und rationale Risikobewertung durchführen und daraus Risikopolitik ableiten zu können, werden eine Reihe von Bewertungskriterien sowie eine Risikoklassifikation vorgeschlagen, die unterschiedliche Risiken charakterisiert und in Risikotypen zusammenfasst. Die Charakterisierung dient dazu, effektive und machbare Managementstrategien, Instrumente und Massnahmen für die Risikopolitik abzuleiten. Bekannte Risikokriterien sind das Ausmass des Schadens, dessen Eintrittswahrscheinlichkeit sowie der Grad der Ungewissheit. In einigen Ländern - etwa in Dänemark, in den Niederlanden und in der Schweiz - werden weitere Kriterien benutzt oder sind mindestens vorgeschlagen worden: die geographische Ausbreitung und zeitliche Ausdehnung des Schadens, die mögliche Umkehrbarkeit des Schadens, die Verzögerung zwischen dem ursprünglichen Ereignis und späteren Folgen sowie die gesellschaftlichen Reaktionen, die bei der Verletzung von individuellen, sozialen oder kulturellen Interessen und Werten möglich sind. Auf diesen Bewertungskriterien aufbauend, können nun sechs Risikotypen entwickelt und entsprechende Managementstrategien für den jeweiligen Risikotyp abgeleitet werden.
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Dieser Risikotyp ist dadurch gekennzeichnet, dass die Katastrophe zwar möglich ist, aber nur mit einer sehr geringen Eintrittswahrscheinlichkeit gerechnet werden muss. Die griechische Mythologie berichtet, dass Damokles einst zu einem Bankett bei seinem König eingeladen war. Er hatte sein Mahl jedoch unter einem scharfgeschliffenen und an einem dünnen Faden hängenden Schwert einzunehmen. Das Schwert des Damokles ist so zum Sinnbild einer im Glück drohenden Gefahr geworden. Die Bedrohung rührt von der Möglichkeit her, dass das schlimme Ereignis jederzeit passieren kann, auch wenn die Wahrscheinlichkeit äusserst gering ist. Typische moderne Beispiele dafür sind die Risiken der Grosstechnik, etwa der Nutzung der Kernenergie, die Risiken grosschemischer Anlagen oder von Staudämmen. Es kann uns eines Tages aber auch ein Meteorit oder ein Asteroid auf den Kopf fallen. Die Experten und Wissenschafter können die Möglichkeit einer solchen Katastrophe und deren Eintrittswahrscheinlichkeit meist relativ gut abschätzen, so dass wenig Ungewissheit bleibt.
Die skizzierten Risiken sind vor allem auch für die Umwelt relevant. Eine Umweltrisikopolitik muss darauf zielen, eine Katastrophe nach Möglichkeit zu verhindern. Dazu sollten Substitute erforscht und entwickelt oder technische Sicherheitsmassnahmen vorgekehrt werden, um mindestens die Unfallgefahr zu verringern. In der Vergangenheit war beispielsweise die erste Strategie in der Kernenergietechnik, die Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze zu reduzieren. Diese Strategie erscheint uns jedoch unzureichend. Sinnvoller wäre eine Strategie, die das Katastrophenpotential, also die Folgen einer allfälligen Kernenergiekatastrophe, verringert. Inzwischen scheint eine solche Entwicklung in Gang gekommen zu sein.
Internationale Abkommen, die Fragen der Haftung regeln, und ein internationaler Technischer Überwachungsverein (TÜV), der die Funktion der Zulassung und Überwachung technischer Anlagen übernimmt, wären hilfreich, um die Widerstandsfähigkeit und Robustheit von Anlagen gegenüber Unfallgefahren zu erhöhen. Nicht zuletzt sind für sämtliche Risikotypen ausreichende Notfallmassnahmen erforderlich.
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Bei den Risiken dieses Typs ist die Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer Katastrophe ungewiss. Die Experten können jedoch das Ausmass einer möglichen Katastrophe gut abschätzen. Zum Risikotyp Zyklop gehören Naturgefahren wie Erdbeben, Vulkanausbrüche und Überschwemmungen. Aber auch biologische Risiken wie das Auftreten von Aids. Es mag überraschen, dass wir ebenfalls nukleare Frühwarnsysteme zu diesem Risikotyp zählen. Eigentlich sollte ein Frühwarnsystem die Menschen auf Bedrohungen und Gefahren aufmerksam machen. Im Fall des russischen Frühwarnsystems wurde der ursprüngliche Schutzgedanken durch die Praxis leider zu einem neuen Risiko pervertiert. Denn erhebliche Mängel in den Funktionen und bei der Wartung machen das russische Frühwarnsystem und seine dazugehörigen Atomwaffen unsicher. Dies stellte 1997 eine Studie der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) fest.
Die alten Griechen kannten mächtige, einäugige Riesen, die sie Rundaugen oder Zyklopen nannten. Mit nur einem Auge kann die Welt lediglich eindimensional wahrgenommen werden, die mehrdimensionale Perspektive geht verloren. Zyklopen versinnbildlichen deshalb Risiken, wo die eine Seite, das Ausmass der möglichen Katastrophe, bekannt ist, die Eintrittswahrscheinlichkeit aber im dunkeln liegt. Deshalb ist vor allem wichtig, die Eintrittswahrscheinlichkeit besser zu erforschen. Die Vernetzung nationaler Risikozentren mit einer internationalen Expertenstelle könnte sinnvoll sein. Der Beirat hat dafür die Einrichtung eines Risk Assessment Panel bei den Vereinten Nationen vorgeschlagen.
Dieses Panel sollte einen Knotenpunkt bilden, wo verschiedene nationale Erfassungen und Bewertungen von Risiken gebündelt, systematisch erfasst und aufeinander abgestimmt werden. So wäre eine zuverlässige Vorhersage drohender Gefahren möglich. Risikopotentiale können weltweit überwacht, kontrolliert und geregelt werden. Ausserdem liessen sich wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse und Risikoanalysen allen Interessierten zur Verfügung stellen. Schliesslich können einheitliche Verfahren der Risikoanalyse und Risikobewertung international Gültigkeit erlangen. Eine weitere Strategie zur Bewältigung von Risiken des Typs Zyklop ist die Einführung von Gefährdungshaftungen und die Versicherungspflicht für Risikoerzeuger, um mindestens gegen finanzielle Überraschungen gewappnet zu sein.
Die Griechen konsultierten in zweifelhaften und ungewissen Fällen ihre Orakel. Das berühmteste war wohl das Orakel von Delphi mit der blinden Seherin Pythia. Pythia benebelte ihre Sinne mit Gasen, um in Trance Vorhersagen und Ratschläge für die Zukunft machen zu können. Pythias Weissagungen blieben jedoch immer mehrdeutig. Für die Risikobewertung bedeutet dies, dass sowohl die Wahrscheinlichkeit als auch die Dimension eines möglichen Schadens unsicher bleiben. Typische Beispiele solcher derzeit kaum abschätzbarer Risiken sind menschliche Eingriffe in Ökosysteme, gentechnologische Innovationen in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelproduktion und ein möglicherweise galoppierender Treibhauseffekt. Wegen der hohen Ungewissheit muss zuallererst die Vorsorge verbessert und müssen mögliche Auswirkungen begrenzt werden. Institutionelle Vorsorgeregelungen wie bestmögliche Kontrolltechnologien und technische Standards erhöhen die Sicherheit.
Internationale Einrichtungen zur Zusammenarbeit, wie das beim Risikotyp Zyklop erwähnte Risk Assessment Panel, können auch hier wichtige Funktionen der Wissensermittlung, der Früherkennung und der Umsetzung von Vorsorgeprinzipien erfüllen. Um die Ungewissheit zu verringern, muss insbesondere auch das Wissen über diese Risikophänomene verbessert werden, indem Eintrittswahrscheinlichkeit und Katastrophenpotential erforscht und eingegrenzt werden.
Ähnlich wie beim Risikotyp Pythia sind auch hier Eintrittswahrscheinlichkeit und möglicher Schaden ungewiss. Die Experten sind sich jedoch einig, dass die möglichen Schäden meistens geographische Grenzen überschreiten und sogar globale Auswirkungen haben können. Auch sind die Schäden langzeitig und oftmals über mehrere Generationen wirksam. Und in der Regel sind die Folgen irreversibel. Typische Vertreter sind persistente organische Schadstoffe wie die Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW), die über lange Zeiträume stabil bleiben. Viele Übel und Missstände erklärten die alten Griechen mit der Büchse der Pandora, die beim Öffnen allerlei Geisseln der Menschheit freisetzte. Solange die Büchse der Pandora geschlossen bleibt, ist nichts zu befürchten. Dieser Zustand lässt sich aber nicht immer aufrechterhalten, wie die Vergangenheit etwa im Fall der Dioxine zeigt.
Diese Risiken in den Griff zu bekommen bedeutet ebenfalls, in erster Linie Vorsorge zu treffen, indem Ersatzstoffe erforscht, gefördert und entwickelt werden. Die alternativen Ersatzstoffe erbringen den gleichen Nutzen, wie die Substitute von FCKW deutlich gezeigt haben. Sind riskante Substanzen bereits vorhanden, können ordnungsrechtliche Mengenbegrenzungen, beispielsweise Umweltstandards oder allenfalls auch radikale Verbote, den drohenden Gefahren Einhalt gebieten. Ökonomische Anreize mittels Emissionszertifikaten bilden zusätzliche Mittel zur Mengenbegrenzung. In einigen Fällen sind strenge Haftungsregelungen ratsam.
Bei den Risiken dieses Typs wird die Wahrscheinlichkeit katastrophaler Folgen von den Experten als hoch eingeschätzt. Es besteht aber eine lange Verzögerungszeit zwischen der Ursache und den katastrophalen Konsequenzen, was dazu führt, dass den Prognosen der Experten zuwenig Beachtung geschenkt wird. Kassandra, eine Seherin der alten Trojaner, hatte das gleiche Problem: Sie sagte den griechischen Sieg korrekt voraus, aber die Trojaner schenkten ihr keinen Glauben. Der anthropogen verursachte Klimawandel sowie der weltweite Verlust biologischer Vielfalt sind solche Risiken. Damit den Warnungen genügend Beachtung geschenkt wird, muss erst ein Bewusstsein für die Ernsthaftigkeit und Bedrohung der Gefahren gebildet und ein Bewusstsein für langfristige Verantwortung geweckt werden. Langfristig angelegte internationale Institutionen mit hoher Wertschätzung könnten zur Bewusstseinsbildung, zur Verbreitung der relevanten Informationen und zur Aufklärung wesentlich beitragen.
Auch hierbei könnte ein Risk Assessment Panel bei den Vereinten Nationen eine zentrale Rolle spielen. Die kollektive langfristige Verantwortung sollte zudem dauerhaft verankert werden, indem sich Staaten, Organisationen und Global Players in einem Code of Conduct und mit internationalen Abkommen verpflichten, das Bedrohungspotential zu mindern. Eine kontinuierliche Verringerung des Risikopotentials durch Erforschung und Entwicklung von Substituten ist ausserdem empfehlenswert. Risiken, die sich nicht vermeiden lassen oder durch andere Lösungen ersetzt werden können, sollten wenigstens durch ein mengenmässiges Begrenzen problematischer Stoffe eingeschränkt oder deren Freisetzung kontrolliert werden.
Die Medusa war eine der drei Gorgonenschwestern, die die alten Griechen fürchteten, weil nur schon ihr Anblick einen Menschen zu Stein werden liess. So lösen auch gewisse moderne Phänomene allein durch die subjektive Wahrnehmung Schrecken aus. Elektrosmog, elektromagnetische Felder etwa in der Nähe von Hochspannungsleitungen, ist ein typisches Beispiel. Das Schadensausmass solcher elektromagnetischer Felder wird von den meisten Experten als gering eingeschätzt, weil weder epidemiologisch noch toxikologisch bedeutsame Veränderungen nachweisbar sind. Vermutlich harmlosen Phänomenen, die aber als Bedrohung wahrgenommen werden, kann mit diskursiven Strategien begegnet werden, indem aufgeklärt und über die Fakten informiert wird. Dazu muss die Glaubwürdigkeit öffentlicher Institutionen gestärkt werden. Unabhängige Institutionen mit hoher Integrität könnten wichtige Vermittler sein. Doch Aufklärung allein genügt nicht - die Betroffenen müssen auch in die risikopolitischen Entscheidungen einbezogen werden.
Zum Beispiel der Hurrikan
«Floyd»
Für jeden Risikotyp wurden drei effektive und praktikable Managementstrategien sowie eine Palette politischer Instrumente und Massnahmen entwickelt, die im Jahresgutachten 1998 des «Wissenschaftlichen Beirats der Deutschen Bundesregierung Globale Umweltveränderungen» ausführlich beschrieben sind. Die Strategien und Instrumente verfolgen das Ziel, einen sicheren und routinemässigen Umgang mit Risiken zu gewährleisten.
Wie wichtig eine gute Risikovorhersage, rechtzeitige Vorkehrungen und umfassende Katastrophenschutzmassnahmen sein können, zeigt das Beispiel des Hurrikans «Floyd», der Mitte August dieses Jahres die Bahamas verwüstete und anschliessend auf die Küste von Florida zuraste. Dieser Hurrikan war an seiner Windstärke gemessen so mächtig wie der in böser Erinnerung gebliebene Wirbelsturm «Andrew» des Jahres 1992. «Andrew» zerstörte damals weite Landstriche in Florida, forderte über 40 Menschenleben, machte 200 000 Anwohner obdachlos und verursachte Schäden in zweistelliger Milliardenhöhe. Die Luftmassen des Wirbelwinds tobten mit Geschwindigkeiten bis zu 250 km/h.
Obwohl nun «Floyd» viermal so mächtig war wie «Andrew» und eine Ausdehnung von der Grösse Frankreichs hatte, waren diesmal die Menschen gewappnet und konnten sich frühzeitig in Sicherheit bringen. Der Sturm war in seiner Stärke und Bewegung von den Meteorologen des Frühwarnzentrums in Miami relativ präzise vorhergesagt worden. Von den Bahamas kommend, bewegte sich der Hurrikan tagelang genau auf Florida zu. Die betroffenen Regionen wurden zu Katastrophengebieten erklärt und mehr als zweieinhalb Millionen Einwohner evakuiert. Die Sturmpropheten des National Hurricane Center konnten ihre Prognosen in den letzten Jahren dank neuen Computermodellen und Datensammlungen markant verbessern. So prognostizierten sie richtig, dass der Wirbelsturm «Floyd» vor dem Erreichen des Festlandes nach Norden abdrehen und Floridas Küste nur streifen würde. Das erfolgreiche Katastrophenmanagement der jüngsten grossen Hurrikangefahr zeigt mit aller Deutlichkeit, wie wichtig Früherkennung und Katastrophenvorsorge zur besseren Bewältigung drohender Risiken sind.
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