Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Quelle:

Tages-Anzeiger 19991014 Seite: 79

 

Betörend und explosiv wie ein Vulkan

Neapel ist besser als sein Ruf - viel besser. Die Stadt im Süden Italiens erlebt eine Renaissance, und ist doch die Alte geblieben.

Autor: Von Oliver Meiler

Neapel ist eine Wucht. Die Stadt überfällt die Sinne, betört, reizt sie in jeder Gasse, an jeder Kreuzung, in jedem Café. Nicht immer gleich angenehm, aber immer intensiv.
In Neapel ist dauernd Alarm: Dort die Sirene einer Ambulanz, da die Trillerpfeife eines Verkehrspolizisten, das Gehupe, das Knattern der Zweitakter, der Motorini, das Rattern eines Helikopters der Finanzpolizei - ein voluminöser Geräuschteppich. Am besten hört man ihn am Rande des Residenzviertels Vomero, auf dem gleichnamigen Hügel, hoch über der Stadt, beim Castel Sant Elmo. Da muss man als erstes hin, mit dem Funicolare ab Via Toledo, der Einkaufsstrasse, die alle Via Roma nennen. Dann noch ein Stück mit dem Bus, zum Kaffee auf die schmale Terrasse des Hotels "Bellavista". Die Sicht auf den Golf, auf den Vesuv ist atemberaubend. Da liegt Neapel, am Fusse des Vulkans, eingerahmt von einer Hügelkette im Osten. Im Westen das Mittelmeer, das eine salzige, klebrige Brise schickt.
Eine kompakte, dichte Stadt (20KB). Nirgends in Europa leben mehr Menschen auf so wenig Raum. Grüne Kirchendächer ragen heraus, kleine Strassen winden sich durch die alten Viertel. Und mittendrin in diesem anarchisch anmutenden Zentrum erheben sich Hochhäuser, die gläsernen, hoch modernen Bauten des Centro Direzionale (20KB), die gradlinig in den Himmel streben.

 

Mandoline und Margherita

Viele Klischees kursieren über "Napule", über die mit viel Pathos besungene (etwa von Pino Daniele) und beschriebene (Luciano De Crescenzo, Raffaele La Capria) Parthenope. Zu den harmlosen, folkloristischen gehört die Mandoline: Als die weinerliche Begleiterin der Liebesbezeugung, die sich unter dem Fenster der Angebeteten ganz besonders melancholisch anhört. Heute jammert die Mandoline vor allem für die Touristen beim Essen.
Ein weiteres Wahrzeichen ist die Pizza Margherita. Sie soll hier erfunden worden sein. So jedenfalls sehen es die Neapolitaner, die Vereine zur Verteidigung der "authentischen Pizza" gegründet haben. Die Margherita gilt als symbolische Umsetzung des Stadtbildes: Mit ihrem aschenschwarzen Rand, versengt vom heissen Lavastrom des Vesuvs, durchsetzt von Mozzarella-Inselchen, den Quartieren, auf einem tiefroten Tomatenbett, das Blut und Amore gleichsam versinnbildlicht.
Und Blut fliesst hier noch immer eine ganze Menge: Neapel ist die Hauptstadt der Camorra, der lokalen Mafia, die zur Zeit ein Führungsproblem hat, nachdem viele Bosse ins Netz der Justiz geraten sind. Kämpfe wüten zwischen den Clans, die ihre Quartiere wie kleine Königreiche halten, an jeder Strassenecke geschmuggelte Zigaretten an den Mann bringen, Schutzgelder eintreiben, mit Waffen und Drogen handeln. Die Camorra ist eine ewige Realität. Die Neapolitaner leben mit oder zumindest neben ihr. Der Staat ist trotz jüngster Erfolge ohnmächtig.

 

Wunder sind geschehen

Die Mafia vermiest das Image von Neapel und hat der Stadt eine Reihe von bösartigen Gemeinplätzen eingetragen: Neapel, die Illegale, die Stadt der Handtaschendiebe, der Gauner und Wucherer. Sie hat seit jeher einen schlechten Ruf; die Brudermorde, die blutigen Abrechnungen, halten Touristen ab. Zu Unrecht. In den letzten Jahren sind hier Wunder geschehen. Seit Antonio Bassolino, der populäre Bürgermeister im Amt ist, seit Dutzende korrupter Politiker ihre Pfründen verloren haben und die Stadt zu atmen begann. Neuerdings fahren beispielsweise Busse - orange, neue, saubere Busse - im rhythmischen Minutentakt. Die R2, die Paradelinie der neapolitanischen Transportdienste ANM, ist verlässlich. Die Zahnradbahnen funktionieren, die U-Bahn ebenfalls, wenn auch auf bescheidenem Netz.
An den Strassenkreuzungen wohnt man einem weiteren Miracolo bei: Da halten die Fahrer am Rotlicht und lassen die Fussgänger durch. Meistens. Apropos Fussgänger: Die haben autofreie Zonen gekriegt, den unteren Teil der Einkaufsstrasse Via Toledo beispielsweise, gesäumt mit Topfpflanzen. Das Verkehrschaos ist geringer geworden.
Die
Piazza del Plebiscito (16KB), diese weite Esplanade zwischen der Kirche San Francesco di Paola (dem Römer Pantheon nachempfunden) und dem in warmes Rot getunkten Palazzo Reale (mit renovierter Fassade), gehört den Fussgängern. Früher war diese imposante Piazza ein Parkplatz, heute spielen kleine Buben darauf Fussball, radeln Velofahrer vorbei, flanieren verliebte Paare. Unter der 56 Meter hohen Glasdecke der neoklassizistischen Galerie Umberto I. diskutieren pensionierte Männer neben kichernden Schulmädchen: Hände tanzen, Arme rudern.

Neapel hat sich verändert, ganz augenscheinlich. Die Stadt ist fröhlicher geworden. Früher spielte sich das Leben in den Hinterhöfen ab, versteckt. Heute stuhlen die Cafés heraus, schenken der Napolenità etwas Öffentlichkeit, ein Stück Strasse, machen sie sichtbar. Etwa das barocke "Gambrinus", eine italienische Institution, an der Piazza del Plebiscito, wo die Sfogliate (Blätterteigtaschen gefüllt mit Ricotta) und süssen Törtchen über die hohen Preise hinwegtrösten. Im "Gambrinus" tragen die älteren Damen der Bourgeoisie schweren Goldschmuck, die jüngeren Foulards aus Paris, die Kellner strenge Uniformen.
Oder die altehrwürdige Cafeteria an der Piazza dei Martiri und das "Gran Caffé" gleich um die Ecke, wo durchwegs junge, gut betuchte Menschen ihren Feierabend mit Campari oder Martini und Nüsschen einläuten. Ein einziger Catwalk - mit dezenter Eitelkeit.

 

Corrida der Motorini

Wir sind mitten in der Chiaia, dem Altstadtviertel für nobles Shopping, das sich bis zur Piazza Vittoria ausdehnt. Kein Name fehlt, die Couturiers haben alle ihre Vitrine an der Via Calabritto: Gucci neben Prada, Louis Vuitton, Versace und wie sie alle heissen.
Die Strassen sind voll, wenn es dämmert und die müde Sonne die Stadt in ein magisches Licht hüllt. Im Zwielicht strahlt Neapel, sind die Gassen sanfte Passagen, romantische Wegweiser in die lange Nacht. Allen voran die enge
Spaccanapoli (28KB) (von spaccare: spalten), nur fünf Gehminuten von der Chiaia entfernt. Die Strasse teilt das alte Zentrum von Norden nach Süden: Zu Beginn, an der Piazza del Gesù Nuovo, heisst sie S. Bendetto Croce, dann S. Biagio dei Librai, am Ende Vicaria Vecchia. Eine pulsierende Achse durch die Stadt. Handwerker haben ihre Ateliers hier, alte Buchhändler ihre überfüllten Läden. Männer spielen Karten an kleinen Piazzette.
Auf der Piazza S. Domenico Maggiore im "Scaturchio" isst man die besten Babà der Stadt, einen mit Rum getränkten Kuchen. Nur, vor zehn Uhr abends denkt in Neapel niemand ans Essen.
Und dann pilgern die Neapolitaner in die Pizzeria in ihrem Quartier, holen sich etwa bei "Michele" an der Via C. Sersale eine Wartenummer an der Kasse und stellen sich geduldig in die Schlange vor dem einfachen Lokal. Es gibt nur zwei Sorten, die Pizza Margherita und die Marinara, die Urpizze sozusagen, so wie sie sein müssen: 7000 Lire, rund fünf Franken. Dazu ein Bier oder ein Cola. Hier verzichten die Neapolitaner auf Antipasti, Primi Piatti, Fische, Vongole und Krustentiere. Über dem Pizzaofen prangt ein schrill beleuchtetes Heiligenbild neben einem Stapel Pizzaschachteln, an einer Wand eine Lobeshymne auf die Margherita - in Dialekt. Vergessen sind Quattro Stagioni und Calzone. Nach dem kurzen Höck bei "Michele" gehts die Via Pietro Colletta hinauf zum Castel Capuano, für ein Spektakel motorisierter Güte. Links bietet sich noch kurz ein Einblick in die Mäander des verfemten Quartiers Forcella, in das sich kein Polizist alleine hinein wagt. Fremde Besucher werden hier kritisch gemustert. Aus der Via Forcella drängen Dutzende von Mofas auf die Via Colletta und reihen sich ein in die Horde der
Motorini (16KB), die bereits um das Castello herum heult, als sei das heutige Tribunal ein Stier, das Rennen eine Corrida. Zu zweit, gar zu dritt sitzen die Jungen im Sattel, überholen in Schwindel erregenden Manövern, kriegen gerade noch die Kurve - und gleich nochmal eine Runde. Dabei flirten sie, blinzeln, rufen sich Komplimente zu. Irgendwann flaut der Lärm ab. Menschentrauben bilden sich am Strassenrand. Es wird gepflückt, leidenschaftlich geküsst - bis in alle Nacht. Ohne Mandoline.

 

Fischgeruch und Wäscheleinen

Der Morgen danach sollte in den Spagnoli beginnen, dem alten spanischen, labyrinthischen Viertel hinter der Via Toledo, am besten ohne Fotoapparat vor dem Bauch. Die Bewohner dieses charakteristischen Quartiers dulden keine aufdringlichen Blicke. Der Geruch frischer Fische mischt sich mit dem von Waschpulver. Statuetten von Heiligen sind in die Hausmauern eingelassen. Wäscheleinen verbinden die Häuser. Hier ist Neapel noch Napule, wie es einmal war: arm, volkstümlich, ein Hauch von orientalischem Bazar.
Die städtische Abfuhr hat die Container der Spagnoli wieder einmal vergessen. Eine alte Frau verkauft Rosen, packt die Stiele in Alupapier. Daneben gibts Zitronen und Zwiebeln, Schuhe ab Fabrik. Verhandelt wird laut und gestenreich, scheinbar aggressiv, aber im Grunde harmlos.
Neapel ist noch immer ein gesellschaftlicher Tiegel, ein Ort, wo Geschichte auf der Strasse gemacht wird, wo soziale Spannungen sichtbar sind, Konflikte offen ausgetragen werden, wo in der Kirche politisiert wird, wo der Kardinal wegen Wucher angeklagt ist und dennoch zweimal jährlich die Gläubigen im Dom versammelt, um die Phiolen mit dem Blut des Schutzpatrons San Gennaro zu schütteln, bis sich das Blut des Heiligen wie durch ein Wunder verflüssigt. Hier ist die Grenze zwischen Gesetz und Verbrechen fliessend, Ordnung im Idealfall ein irgendwie kontrolliertes Chaos.

 

Napule für immer

Neapel bietet keine beruhigende Fassade, ist keine aufgepeppte Attrappe aus der Antike. Neapel ist echt, unerlösbar von seinen Qualitäten wie von seinen Schwächen, wie La Capria einmal schrieb. Auch wenn sich etwas getan hat. Auch wenn kleine Reformen fruchten, kulturelle Initiativen allmählich greifen, sanfte Renovationen das Stadtbild verschönern. Napule bleibt sich treu: schön und verrucht zugleich. Wer nie hier war, versteht Italiens kontrastreichen Süden nicht.  

 


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