Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
Klassische Sprachen |
Quelle:
NZZ LITERATUR UND KUNST Samstag, 11.12.1999 Nr. 289 78
Die Zwölf Tafeln des Rechts |
Eine Erzählung in
Zahlen
Von Marie Theres
Fögen
In der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. schrieben die Römer ihr Recht auf. Es fand Platz auf zwölf Tafeln und enthielt rudimentäre Normen zur Erbfolge, zum Darlehen, zu Bauabständen, zum Erntezauber, zum Diebstahl, zur Begrenzung des Luxus bei Begräbnissen und einiges mehr, etwa: Wer einen altersschwachen Mann vor Gericht lädt, muss ihm ein Fuhrwerk stellen. Oder: Der säumige Schuldner darf vom Gläubiger an eine Kette gelegt werden und hat die Wahl, sich aus eigenen Vorräten zu ernähren oder sich vom Gläubiger ernähren zu lassen.
So merkwürdig selektiv und altertümlich die überlieferten Rechtssätze auch anmuten mögen, die Römer betrachteten die Zwölf Tafeln für die folgenden Jahrhunderte als ihre «Grundnorm», wurden nicht müde, sie zu zitieren, zu memorieren, zu kommentieren und davon zu erzählen, wann, warum und unter welchen Umständen sie entstanden waren. Jahrzehntelange Konflikte zwischen Patriziern und Plebejern sollten - so sagte Livius um die Zeitenwende wie noch F. Wieacker zum Ende des zweiten Jahrtausends - durch Festlegung des Rechts geschlichtet werden. Aber die Plebejer hatten eigentlich nur eines begehrt: ein Agrargesetz, das ihnen Land zuteilte. Statt Land und Brot erhielten sie die Zwölf Tafeln - und blieben entsprechend unzufrieden. Die Rechnung geht nicht auf.
Die Rechnung geht selten auf in der Geschichte. Schon gar nicht, wenn ein Ereignis zur Debatte steht, das einen Evolutionssprung in der Geschichte einer Gesellschaft darstellt. Der Überlieferung nach sind die Zwölf Tafeln der erste Akt der Verschriftlichung und Veröffentlichung von Recht in der römischen Geschichte, ja das erste schriftliche Werk der Römer überhaupt. Wir wissen oder ahnen heute, welche Chancen der Schritt in die Literalität einer Gesellschaft eröffnet. Wir können beobachten, welche Folgen Schriftlichkeit für die Organisation von Wissen, für das individuelle und kollektive Gedächtnis und für den Aufbau komplexerer Strukturen mit sich bringt. Aber warum es der Evolution gefiel, just zu einem Zeitpunkt eben diesen Sprung zu vollführen, das können wir uns kaum besser zusammenreimen, als, sagen wir, Livius dies konnte.
DIE ZEHN
Im Gegenteil: Livius und seine antiken Kollegen bedienten sich da, wo streng kausale Erklärungen versagen, einer Technik, die unter modernen Historikern nicht mehr als salonfähig gilt. Statt Geschichte zu schreiben, erzählten sie Geschichten, und statt ein Erstmals-Ereignis zu erklären, verarbeiteten und deuteten sie es in einem Gründungsmythos. Livius' Geschichte von den Zwölf Tafeln ist ein solcher Gründungsmythos - und eine Erzählung in Zahlen. Denn «erkenntnisspendend ist die Natur der Zahl und führend und lehrend für jeglichen in jeglichem, das ihm zweifelhaft und unverständlich ist» (Philolaos, 5. Jahrhundert v. Chr.).
Ständekämpfe, wie gesagt, galt es zu schlichten. Gesetze, die Patriziern und Plebejern gleichermassen gefallen würden, sollten Frieden schaffen. Man schickte eine Gesandtschaft von drei Männern nach Griechenland, um die dortigen Gesetze zu erkunden. Nach deren Rückkehr wurde eine Gesetzgebungskommission eingesetzt, die aus zehn Männern, den Decemvirn, bestand. Diese hatten alle Vollmachten, die sonst den höchsten Beamten, den zwei patrizischen Konsuln und den zehn plebejischen Tribunen, zustanden. Sie sprachen auch Recht, und zwar je einer von ihnen alle zehn Tage. Im übrigen arbeiteten sie auftragsgemäss daran, die Gesetze aufzuschreiben. Das Ergebnis präsentierten sie binnen kurzem: Es waren zehn - nicht zwölf - Tafeln, welche «für alle, hoch wie niedrig, gleiche Rechtsbestimmungen» enthielten und sich der Zustimmung aller erfreuten.
«Die Kraft der Zehnzahl ist gross, allvollendend, allwirkend . . . Ohne sie aber ist alles unbegrenzt und undeutlich und unklar» - so die Lehre der Pythagoreer. Unter allen Zahlen, mit deren Hilfe man begonnen hatte, die Welt zu begreifen und zu berechnen, war die Zehn die letzte eigentliche Zahl und die vollendet harmonische. Die tetraktys, die Summe von 1, 2, 3 und 4, wurde seit alters als gleichschenkliges Dreieck dargestellt:
.
Das Decemvirat war, so berichtet Livius, wie folgt zusammengesetzt: Ein Mann hatte als Konsul des Vorjahres den Gesetzgebungsantrag gestellt, zwei Männer waren die designierten Konsuln des laufenden Jahres, drei Männer waren die Gesandten nach Griechenland. «Die übrigen machten bloss die Zahl voll» - das war ihre einzige Legitimation und Funktion. «Die Zahl» ist natürlich die Zehn. Das erste Decemvirat der römischen Geschichte bestand also aus 1 plus 2 plus 3 plus 4; es war exakt der tetraktys nachgebildet und brachte eben diese, die zehn Tafeln, hervor. Mit den zehn Tafeln der zehn Männer ist der Ständekampf (vorläufig) beendet, sind Konsens und Harmonie eingekehrt, ist die kosmologische Ordnung hergestellt. Die erste Verschriftlichung von Recht - mit Hilfe der Griechen, von denen man Zeichen und Zahlen lernte - mündet in der vollendeten Zehn.
Livius verknüpft in seiner Erzählung Rechtsetzung und Schriftlichkeit nicht nur, historisch zutreffend, mit der griechischen Kultur. Er kennt aus dieser auch die Kraft der Zehn, ohne die alles unbegrenzt und unklar bliebe. Was aber täte mehr not, als dem Recht Grenze und Klarheit zu verschaffen? Zumal es in Rom keinen Gott gibt, der höchstpersönlich auf zwei Tafeln zehn Gebote aufschreibt und Moses übergibt. In Rom haben Menschen die Keckheit, selber Recht zu setzen und auf zehn Tafeln aufzuschreiben. Dieses Experiment ist, wie alle Experimente, hochriskant, sein Ergebnis ungewiss. Manche erste Erfahrungen führen in die Irre und den Abgrund. Aber der erste Akt der Schriftlichkeit und zugleich der erste Akt der Rechtskodifikation findet in Livius' Gründungslegende sein glückliches Ende in der perfekten Zehn.
DAS CHAOS
Doch, so erzählt Livius weiter, alsbald «verbreitete sich die Meinung, es fehlten noch zwei Tafeln. Wenn diese dazukämen, könne gleichsam eine Sammlung des gesamten römischen Rechts erstellt werden.» Die Folgen dieser Unersättlichkeit waren furchtbar. Die vormals tüchtigen und rechtschaffenen Decemvirn mutierten (in neuer Zusammensetzung) zu Tyrannen, prügelten und plünderten und führten ein wahres Schreckensregiment, unter dem Patrizier ebenso litten wie die Plebs. Zwei weitere Gesetzestafeln waren zwar binnen Jahresfrist erstellt, was die Zehnmänner jedoch nicht davon abhielt, ihre Machtfülle weiterhin grausam zu missbrauchen. Ihr Anführer, Appius Claudius, trieb das üble Spiel auf die Spitze.
In schnöder Lust auf eine junge Schöne namens Verginia entbrannt, zettelte er durch einen Strohmann einen Prozess an um den Freiheits- oder Sklavenstatus der Jungfrau. Gegen alles Gesetz und Recht, «entgegen dem Rechtsgrundsatz, den er (Appius) selbst aus dem alten Recht in das Zwölftafelgesetz übernommen hatte» (Pomponius, D.1.2.2.24), wurde Verginia diesem Strohmann zugesprochen und wäre damit den niederen Gelüsten des Appius ausgeliefert gewesen. Ihr Vater, Verginius, verhinderte dies, indem er seine eigene Tochter erstach und die berühmten, noch für Lessings Emilia Galotti vorbildlichen Worte sprach: «Auf diese einzige Art, die mir möglich ist, Tochter, bewahre ich dir die Freiheit»: te in libertatem vindico, das ist der in Verginius' Mund bitter schmeckende Terminus technicus, die Vindikation, der Zwölf Tafeln. Erst dieses Blutopfer einer Jungfrau setzte der Tyrannei ein Ende und der Freiheit einen Anfang.
Die katastrophenreiche Geschichte des Jahres nach den Zehn Tafeln ist eine Geschichte von den Katastrophen, die Verschriftlichung und Kodifizierung von Recht auslösen können. Da sind zum einen die Unersättlichkeit und Sucht nach Vollständigkeit - ein Motiv, das noch aus der jüngsten Kodifikationsgeschichte wohlvertraut ist -, die als schiere Hybris erscheinen. Wer das rechte Mass vergisst, wer die perfekte Zehn zu überbieten meint, wird umgehend mit Chaos bestraft. Denn jenseits der Zehn ist «alles unbegrenzt und undeutlich und unklar». Recht, das einmal gesetzt und verschriftlicht ist, aber wuchert weiter, ist nicht mehr leicht begrenzbar. Der Wunsch nach mehr Recht korrumpiert sogar die ehemals gute politische Macht. Unter dem Vorwand, noch mehr Recht setzen zu sollen, wird sie ebenso unbegrenzt wie das Recht. Wie auch anders, wenn Zehnmänner Zwölf Tafeln machen sollen?
Und zum anderen die Verginia-Geschichte. Alles Recht, das Menschenhand gesetzt hat, läuft Gefahr, von Menschenhand nicht nur verändert und ergänzt, sondern auch umgehend gebrochen zu werden. Gesetztes Recht ist ungleich fragiler als mündlich überliefertes und mündlich praktiziertes. Denn das Setzen geht mit der Erfahrung einher, dass Recht ein Menschenwerk ist. Den Bruch göttlichen Rechts werden Gott und die Götter rächen. Menschliches Recht hingegen unterliegt der menschlichen Willkür, einschliesslich des willkürlichen Rechtsbruchs. Ob dieser gerächt werden wird, ist ungewiss. Womöglich bedarf es zur Wiederherstellung der Ordnung eines Opfers. Der zweite Akt der Gründungslegende des Livius erzählt von der Positivität des Rechts und deren Gefahren, erzählt von der offenbar uralten Erfahrung, dass Recht, welches über keine andere Legitimation und keinen anderen Geltungsgrund verfügt als den Akt der Setzung, zwar Frieden und Freiheit verheissen, aber ebensogut in Tyrannei und Terror führen kann.
DIE ZWÖLF
Es kehrten, nachdem Verginia geopfert war und das Volk die Decemvirn beseitigt hatte, ruhigere Zeiten ein. Die Zwölf Tafeln waren da. Selbstverständlich durften es, trotz aller Gier nach noch mehr Recht, nicht 14, 17 oder 19 sein. Hat doch nur die Zwölf eine annähernd so grosse Dignität und Symbolkraft wie die Zehn. Zwölf Monate und zwölf Tierkreiszeichen hat das Jahr, zwei mal zwölf Stunden der Tag, zwei mal zwölf Gesänge Homers Epen. Zwölf Stämme hat Israel, zwölf Apostel sollte es geben. Auch die Gründung Roms verdankt sich der Zwölf. Als zwischen Remus und Romulus entschieden werden musste, wer denn nun König sein solle, wurde der Vogelflug befragt. Remus vermeldete sechs Geier, Romulus hingegen die doppelte Zahl und legte sich als König zwölf Liktoren zu. Zwölf ist die Summe der ihrerseits hoch bedeutsamen Fünf und Sieben. Und wenn die Zehn die Summe von 1, 2, 3, 4 darstellt, so lässt sich die Zwölf durch eben diese Zahlen teilen. Mit ihr kann man vom Addieren zum Dividieren übergehen. Das römische As wird zwölf Unzen haben.
Livius' Gründungsmythos erzählt auch eine Geschichte der Konkurrenz von Dezimal- und Duodezimalsystem. Beide Systeme haben ihre Vollkommenheit. Doch zwischen beiden liegt die Anarchie. Erst wenn die Zwölf fest etabliert ist, haben die Menschen ihre Ordnung gefunden. Nicht zuletzt ihre Rechtsordnung. Die Zwölf war das Ergebnis eines durchaus schmerzhaften Gründungsakts des Rechts. Die Zwölf Tafeln blieben für die folgenden Jahrhunderte die «Quelle alles öffentlichen und privaten Rechts», aus der sich der breite und breiter werdende Strom der Tradition speiste.
Text der Zwölftafelgesetze
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