Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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NZZ LITERATUR UND KUNST Samstag, 11.12.1999 Nr. 289  79

 

  

Die Enden der Geschichte

Historische Apokalyptik - ein Rückblick

Von Alexander Demandt

Seit frühesten Zeiten gibt es Zeugnisse dafür, dass man sich am Ende der Geschichte glaubte. Die Vorstellung herrschte, dass die Dinge sich schneller veränderten als je zuvor, dass die Lebensumstände sich verschlechterten. Der Gedanke an das Ende entspringt einer angespannten Gefühlslage: bisweilen Hoffnung, öfter Verzweiflung, und findet Ausdruck in religiösen wie in säkularen Darstellungsformen

Das früheste Zeugnis für eine pessimistische Diagnose finden wir in den Mahnworten eines ägyptischen Weisen names Ipuver, überliefert auf einem Papyrus des zweiten Jahrtausends v. Chr.: «So ist es: Räuber sind reich geworden, alles ist zur Plünderung freigegeben; die Wüste wächst, und das Land dreht sich wie eine Töpferscheibe.» Nichts steht mehr fest. Klagen über die Zeit in der griechischen Tradition sodann äussert Hesiod um 700 v. Chr. Ihm verdanken wir den locus classicus für die absteigenden Altersphasen der Menschheit, beginnend mit dem Goldenen Zeitalter. Ihm folgte das Silberne Zeitalter, bis Zeus auch dies beendete und das Eherne Zeitalter heraufführte, das mit dem Heroischen Zeitalter des Trojanischen Krieges verbunden ist. Hesiod nun befindet sich im letzten, im Eisernen Zeitalter, in dem Gesetz und Recht der Gewalt gewichen sind.

Hesiod war ein Dichter, kein Historiker. Die griechischen Geschichtsschreiber wie Herodot und Thukydides machten keinen Gebrauch von der Idee eines Eisernen Zeitalters. Dennoch glauben beide, den grössten aller Kriege darzustellen. Das war für Herodot der Perserkrieg, für Thukydides der Peloponnesische Krieg. Thukydides begründet sein Urteil mit einer Fortschrittstheorie. Er weiss von einer technischen Entwicklung, wodurch die Waffen immer wirksamer, die Kriege immer grösser und verderblicher geworden seien. Insofern ist sein Bild von der Zukunft pessimistisch.

 

POLYBIOS

Das Geschichtsverständnis änderte sich mit dem Aufstieg Roms, wie Polybios ihn nach dem Hannibal-Krieg darstellt. Er hatte selbst gegen die Römer gekämpft, war aber als Geisel in Rom von den Scipionen aufgenommen worden und erlebte im Umgang mit ihnen eine politische Bekehrung. Er erkannte Roms Leistung in der Vereinigung der gesamten Mittelmeerwelt zu einem organischen Ganzen, dessen Gedeihen in Frieden bevorstand. Das Imperium Romanum war für ihn die letzte Stufe der Geschichte.

Der Optimismus des Polybios zeigt indessen keine eschatologischen Züge. Ein Zustand endlosen Glücks in der Zukunft widerspräche der für einen Griechen selbstverständlichen Überzeugung, dass alles fliesst, dass allein dem Wandel Dauer zukommt. Polybios hat Roms Schicksal zutreffend vorausgesehen: «Überall, wo Freiheit und Macht lange zugleich bestehen, werden die Menschen nach dem Gesetz der Natur der herrschenden Verhältnisse überdrüssig. Sie suchen sich einen Herrn (der dann die Lage ändert) und wundern sich dann, welch schlechten Tausch sie gemacht haben.» Kündet diese Regel nicht die römische Kaiserherrschaft an? Von einem Glauben an Roms Ewigkeit war Polybios ebensoweit entfernt wie sein Gönner Scipio. Als er Karthago zerstört hatte, trat ihm der Untergang Trojas vor Augen, und er zitierte Homer: «Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilion hinsinkt.» Dabei dachte er an das Ende Roms in der Zukunft.

Roms aussenpolitische Erfolge endeten im innenpolitischen Kampf der Prokonsuln um die Macht. In den letzten Jahren der Republik mehrten sich die Stimmen der Verzweiflung. Macht hatte zu Luxus geführt, dieser, so glaubte man, begünstige ein Lasterleben, und der Sittenverfall müsse den Zusammenbruch des Staates bewirken. Horaz sprach von einem auf Rom lastenden Fluch, begründet in dem Brudermord des Romulus an Remus. Die Römer mögen, so riet er ihnen, ihre unselige Stadt verlassen und sich auf den Inseln der Seligen im Atlantischen Ozean eine neue Heimat suchen.

In der gleichen Atmosphäre erwuchs jedoch auch eine grosse Hoffnung. Man erwartete einen göttlichen Retter, wie Vergil ihn in seiner vierten Ekloge aus dem Jahre 40 v. Chr. ankündigt. Er sollte nach der «ultima aetas» der Gegenwart das Goldene Zeitalter für Rom, ja für die Welt zurückbringen. Die Erwartungen richteten sich auf Augustus, dessen Herrschaftsantritt in Kleinasien als «evangelion» begrüsst, in Rom als «reparatio felicium temporum» gefeiert wurde. Die Erwartungen erfüllten sich. Das Reich hatte seine Wachstumsgrenzen erreicht, die letztgültige Staatsform gefunden. Die Pax Romana sicherte Frieden und Wohlstand, den Sklaven winkte die Freilassung, die Provinzialen erhielten das Bürgerrecht. Die Geschichte schien am Ende. Zu erwarten war eine fortschreitende Zivilisierung und Urbanisierung, die Historiographie verwandelte sich in eine Folge von Kaiserbiographien.

Ungelöst blieben zwei Probleme, Christen innerhalb und Barbaren ausserhalb des Reiches. Die Rolle des Christentums ist widersprüchlich, weil viele Juden und alle Christen die römische Auffassung von der mit Augustus angebrochenen neuen Zeit teilten und das Römische Reich als die letzte Weltordnung betrachteten. Juden und Christen sahen jedoch nicht in Augustus, sondern im Messias den Retter. Dies war für den Christen Jesus von Nazareth, der den neuen Aion bringen sollte.

Die Predigt, das Himmelreich sei nahe herbeigekommen, gehört zu den zentralen Dogmen Jesu und verwandelte sich nach dessen Tod in die Hoffnung auf seine baldige Wiederkehr. Der Erfolg der Jesus-Religion ist nicht zu verstehen ohne die Propheten des Alten Testamentes, die nach dem Niedergang des Königreiches Davids darauf gehofft hatten, dass Gott seinen Gesalbten senden werde, der nicht nur Israel wieder aufrichten, sondern darüber hinaus den Frieden des Paradieses wiederherstellen würde, in dem die Löwen bei den Lämmern liegen und die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden. Jesaja erblickte im Perserkönig Kyros den Messias. Wie immer: zu früh. Erwartung und Enttäuschung wiederholen sich seitdem periodisch.

Der klassische Text der jüdischen Endzeit-Erwartung ist das Buch Daniel. Während des Makkabäer-Aufstandes verkündete der unbekannte Autor das Erscheinen des Heilands, der den «Koloss auf tönernen Füssen» zerschmettern, das heisst die Abfolge der vier Weltreiche beenden und die Herrschaft Gottes bringen sollte. Auch Jesus selbst scheint diese Auffassung geteilt zu haben. Messias-Erwartungen liegen den beiden grossen Kriegen der Juden gegen die Römer zugrunde, die Tausende von Toten forderten.

Die Endzeit-Prophetien der Juden haben sich in mehreren Texten niedergeschlagen: unter den Qumran-Rollen ist es das «Buch des Kampfes der Söhne des Lichtes gegen die Söhne der Finsternis». Das Licht kommt aus dem Osten, die Finsterlinge wohnen im Westen, in Rom. Der Endkampf hat die mythische Länge von 40 Jahren. Die Juden, Heiligen und Engel besiegen die Trabanten des Teufels, während die Priester die Schlacht mit Trompetensignalen leiten. Am Ende steht die ewige Erlösung der Frommen.

Die Verbreitung der Endzeit-Erwartung im Orient zeigt sich ebenfalls in der Frühgeschichte des Islams. Der Inhalt der ersten Predigten Mohammeds nach seiner Berufung zum Propheten durch den aus dem Buch Daniel bekannten Engel Gabriel war eine Warnung vor dem nahen Gottesgericht. Er selbst wurde von seinen ersten Anhängern in Medina mit dem von den dortigen Juden erwarteten Endzeit-Messias identifiziert. Nach der Lehre des Korans ertönt vor dem Ende vom Jerusalemer Tempelberg aus die Posaune des Engels Israfil. In späterer Zeit wurde als Bote des Endes die Figur des Mahdi entwickelt, die immer wieder zu Unruhen in der islamischen Welt geführt hat. - Grundlage der Endzeit-Erwartung der Urchristen wurden die Ölberg-Predigt Jesu und die Johannes-Apokalypse. Die Zeit bis zum Gericht blieb der Mission vorbehalten; sobald diese alle Menschen erreicht haben würde, genauer: sobald die vorausbestimmte Zahl der 144 000 Heiligen, denen das Himmelreich beschieden sei, voll sei, komme das Weltgericht. Dies glaubte auch Augustinus. In der Zeit Augustins, als die Germanen ins Reich eingebrochen waren, kam es zu einer regelrechten Endzeit-Kontroverse zwischen Christen und Heiden. Letztere verkündeten das Greisenalter der Welt, nachdem die «senectus Romae» seit Seneca als Gemeinplatz kursierte.

Der «Asklepios» des Pseudo-Apuleius schwelgte in grandiosen Untergangsvisionen. Der aus dem spätantiken Alexandria stammende Text macht den Abfall vom Götterglauben, das heisst die Christen, für das Ende verantwortlich. Christen wie Ambrosius von Mailand wiederum sahen in den Germanen wo nicht die Schuldigen, so doch die Vollstrecker. Das apokalyptische Barbarenvolk Gog wird mit den Goten gleichgesetzt, die Wehen der Endzeit vollziehen sich in der Völkerwanderung. Während des gesamten Mittelalters kehren derartige Endzeit-Ängste wieder. Otto von Freising widmete das ganze achte Buch seiner Chronik dem Weltende.

 

DAS «DRITTE REICH»

Die Johannes-Apokalypse verhiess vor dem Jüngsten Gericht ein Zwischenspiel, das Tausendjährige Reich irdischen Wohlergehens. Diese Idee wurde von Augustinus aus asketischer Gesinnung abgelehnt, doch war der Wunsch nach einer irdischen Endzeit auch unter Christen nicht zu unter- drücken. Diese Hoffnung inspirierte Joachim von Floris um 1200 zu seiner Prophezeiung eines «Dritten Reiches»: Nach der Zeit des Vaters und der des Sohnes komme die des Heiligen Geistes. Die Hoffnung der Millennaristen aber zerschlug sich, wie so viele. Die Mission blieb stecken, der Paraklet erschien nicht; und so verbreitete sich seit dem 15. Jahrhundert die Auffassung, dass man die neue Zeit nicht abwarten, sondern herbeiführen müsse.

Bei den Hussiten und den Wiedertäufern finden wir das Bestreben, den Übergang in die Endzeit gewaltsam zu beschleunigen, ähnlich wieder bei den Puritanern in England. Die Hoffnung auf eine Zukunft im Himmel verwandelte sich in die Bemühung, die irdischen Lebensbedingungen zu verbessern. Die ersten Theoretiker des Fortschrittes, unter ihnen Lessing und Herder, stehen noch ganz im Banne der christlichen Denktradition. Sie vertrauten auf die göttliche Lenkung der menschlichen Geschicke, erwarteten jedoch kein plötzlich hereinbrechendes Himmelreich, sondern einen stetigen Fortschritt zur Vernunft und zur Humanität auf Erden.

Die Vorstellung vom Ende der Geschichte verwandelte sich in der Aufklärung. Kant stellte 1784 fest: «Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter?, so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.» Ob dieses Zeitalter in einen Zustand der Vernunft führen werde, liess Kant offen, er war aber fest davon überzeugt, dass der Progress nicht unterbrochen werde. Sein Entwurf zum ewigen Frieden von 1795 sah einen allgemeinen Bund der Völker vor, die republikanisch verfasst sein und sich in Humanität üben sollten. Insofern war für ihn die Aufklärung das letzte Zeitalter der Geschichte. Weniger Geduld mit der Endzeit hatte Hegel. Er glaubte, die Aufklärung habe ihr Werk getan. Im preussisch-protestantischen Staat seiner Zeit wähnte er die Freiheit - zumindest ihrem Prinzip nach - realisiert und damit die Geschichte vollendet. So lesen wir in seiner Geschichtsphilosophie von 1831: «Mit diesem formell absoluten Prinzip [der Freiheit] kommen wir an das letzte Stadium der Geschichte, an unsere Welt, an unsere Tage.» Sein Bild von der Eule der Minerva zeigt, dass der Tag vorüber ist; blendet freilich aus, dass jetzt die Nacht zu erwarten wäre. Jedenfalls meinte er, zu tun sei nun nichts Substantielles mehr, die Stunde des Philosophierens habe geschlagen.

Der Glaube an das nahe Zeitenende, wie er schon in der Französischen Revolution auftaucht, begegnet uns wieder bei den Frühsozialisten sowie bei Marx und Engels. Sie wähnten sich dreimal - 1848, 1852 und 1871 - vor der Weltrevolution, die über die Diktatur des Proletariats in die klassenlose Gesellschaft hinüberführen und das Glück des Urkommunismus auf höherer Stufe erneuern werde. Hier haben wir das Modell der Heilsgeschichte, vom Kopf auf die Füsse gestellt. Dem Paradieseszustand entspricht die klassenlose Urgesellschaft. Sie endet mit dem von Engels so genannten «Sündenfall» der Arbeitsteilung. Die sich anschliessende eigentliche Geschichte ist antagonistisch strukturiert, bei Augustinus im Neben- und Gegeneinander von Civitas Diaboli und Civitas Dei, bei Marx im Klassenkampf der Unterdrückten gegen die Ausbeuter. Den Abschluss der Geschichte bildet für die Christen das Gottesreich, für die Kommunisten die klassenlose Gesellschaft, voraus gehen dort das Tausendjährige Reich und das Weltgericht, hier die Diktatur des Proletariats und die Weltrevolution. Das Endparadies unterscheidet sich vom Urparadies in beiden Fällen darin, dass es keinen zweiten Sündenfall geben wird.

 

ABENDDÄMMERUNG

Unter den zahlreichen Verfechtern einer Endzeit-Idee in unserem Jahrhundert ragt Oswald Spengler mit seinem «Untergang des Abendlandes» hervor. Dieses 1917 zuerst erschienene Werk will zeigen, dass die Weltgeschichte in acht ungefähr tausendjährige Hochkulturen zerfällt, deren letzte, die «faustische», nun übergehe in eine kultur- und geschichtslose Endphase, die zwar noch lange dauern könne, ohne dass indessen die erschöpfte Kulturseele noch neue Blüten bringe. Spenglers britischer Nachdenker Toynbee hat an dieser Kulturmorphologie zahlreiche Änderungen angebracht. Der Endzustand unterscheidet sich grundlegend von dem bei Spengler. Toynbee glaubte an die Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden.

Die apokalyptischen Erwartungen in der zweiten Jahrhunderthälfte zeigen zahlreiche Schattierungen. Fukuyama konstatierte 1989, dass mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion der letzte Weltzustand erreicht sei. Zu allen Zeiten hätten sich mindestens zwei grundsätzliche Positionen gegenübergestanden: Griechen gegen Perser, Römer gegen Barbaren, Kaiser gegen Papst, Christen gegen Muslime, dynastische Legitimation gegen Volkssouveränität, demokratische Kräfte gegen totalitäre Systeme. Mit dem Ende des Sozialismus gebe es keine erfolgversprechende Alternative mehr zu einer liberalistisch-kapitalistischen Demokratie. Was die Zukunft jetzt noch zu bieten habe, sei nichts anderes als die Durchsetzung dieses Prinzips und verdiene daher nicht mehr die Bezeichnung «Geschichte».

In den erwähnten Endzeit-Prophetien spielt die Magie des runden Jahres 2000 noch keine Rolle. Sie begegnet in unserem Zusammenhang, wenn auch nur andeutungsweise, bei Spengler, indem er den Tausendjahreszyklus, den er bei all seinen Hochkulturen annimmt, im Falle des Abendlandes zwischen die Jahre 1000 und 2000 setzt. Die Bedeutung von Jahrzehnten, Jahrhunderten und Jahrtausenden für das Geschichtsbewusstsein findet sich zuerst bei den Römern. Sie haben in Anlehnung an etruskisches Gedankengut runde Jubiläen gefeiert. Das grösste Fest dieser Art war die Tausendjahrfeier Roms unter Philippus Arabs im Jahre 248. Mit gigantischen Zirkusspielen feierte man das Ereignis. Man propagierte eine neue «aurea aetas», obschon das Imperium damals vor dem Abgrund stand.

Die runden Jubiläen der christlichen Tradition beginnen nicht mit dem Jahr 1000, das man schlicht verschlafen hat, sondern mit dem Anno Santo 1300 unter Bonifaz VIII. Seit dem 17. Jahrhundert kommen dann auch säkulare Jubiläen auf, und im 19. Jahrhundert sind sie ubiquitär. Die Jahreswenden 1800 und 1900 wurden gefeiert, das Jahr 2000 verspricht einen Rekord an Rekorden, wenn es denn stattfindet. Jean Baudrillard hielt 1984 an der Freien Universität einen Vortrag, in dem er dies bestritt. Seine These: bis dahin gebe es keine Geschichte mehr. Dies aber liege nicht an einem Mangel an Ereignissen, sondern an deren Überstürzung. Durch den Sensationsbedarf der Medien überschlügen sich die Katastrophen, kein Geschehnis habe noch Zeit, die Wirkung zu entfalten, wodurch es Geschichte wird. Die Übersättigung mit Variaem führe zu einer chaotischen Tatsachenmenge, die keine historische Struktur mehr erkennen lasse.

Endzeit-Idee und Geschichtslosigkeit nach dem Jahr 2000 verknüpfte schon Ernst Jünger 1932. Seine letzte Prognose auf das 21. Jahrhundert gab er 1993. Er glaubte, dass sich der bereits zu beobachtende Ausstieg des Menschen aus der Geschichte nach der Jahrtausendwende fortsetzen werde. Seit 200 Jahren befänden wir uns in einer Weltrevolution, die uns in gewisser Weise schon jetzt aus der Geschichte verdrängt habe. Er sprach von apokalyptischen Visionen am Ende des Jahrtausends, indem er den Untergang der «Titanic» 1912 als prophetisches Zeichen wertete. Eine allgemeine «Fellachisierung» greife um sich: wenn auch auf unterschiedlichem Niveau, so doch im Einvernehmen darüber, dass ein historisches Bewusstsein entbehrlich wird: «Man lebt für den Tag.» Jünger prophezeite den Weltstaat, nicht jedoch den Weltfrieden. Er rechnete mit einer Zunahme des Terrorismus, dessen Bekämpfung keine geschichtliche Dignität besitze.

Ernst Nolte hat 1998 in seinem Alterswerk mit dem Titel «Historische Existenz» eine umfassende Geschichtsphilosophie vorgelegt, die durch sogenannte «historische Existenzialien» gekennzeichnet ist: Religion, Staat, Adel, Krieg und Revolution, Stadt und Land, Historie und Wissenschaft. Diese Existenzialien sieht Nolte einem Transformationsprozess ausgesetzt, der ihr Wesen verändert. Religion zerfällt in Fundamentalismus und Folklore, der Staat verschwindet im Netzwerk der Globalisierung, an die Stelle des Adels treten Funktionseliten, Krieg gibt es nur noch in Form von Grenzkonflikten in Entwicklungsländern und Polizeieinsätzen der Weltorganisationen. Revolution wird in Form von Protestaktionen eine unvermeidliche, aber unbedeutende Begleiterscheinung von Veränderungen der Produktion. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land verschwinden, die Wissenschaft produziert noch Bücher und Maschinen, sie verliert hingegen ihre Bedeutung für die «Menschenbildung». Das Geschichtsbewusstsein beschränkt sich auf die Erinnerung an die Greueltaten einer Zeit, mit der man nichts mehr zu tun haben will.

Die Nähe zum kommenden Jahrtausend empfindet Nolte als einen bevorzugten Auslug, mit dem neuen Millennium lässt er die 5000 Jahre der eigentlichen Geschichte enden. Die von Spengler dem Abendland nach dem Untergang um das Jahr 2000 vorausgesagte geschichtslose Zivilisation weitet Nolte aus auf die Zukunft der Menschheit insgesamt. Voll entfaltet sieht er das posthistorische Zeitalter der «wissenschaftlich-technischen Konkurrenzökonomie» im Jahre 2200. Die Medizin ist der Krankheiten Herr geworden, das Durchschnittsalter der Menschen auf 200 Jahre gestiegen.

Nolte misst den Problembereichen unserer Zeit keine geschichtsträchtige Zukunft zu. Bevölkerungswachstum, Wohlstandsgefälle, Massenwanderung, Fundamentalismus, Umweltbedrohung, Technikfolgen, all dies löst sich offenbar globaldemokratisch ohne Geschichte, undramatisch. So gewiss wir das wünschen müssen, so ungewiss ist die Annahme einer solchen Endzeit, denn dafür brauchte man einen neuen Menschen, den perfekt sozialisierten Kosmopoliten, den wohltemperierten Endzeit-Bürger.

Bis die Menschheit diesen Sprung vollzogen hat, müssen wir uns gemäss Jacob Burckhardt mit dem allgemeinmenschlichen Drang zu periodischer grosser Veränderung abfinden. Welchen Grad an Glückseligkeit man dem Menschen auch gewährte, eines Tages erschallt der Ruf Lamartines: «La France s'ennuie!» - und die Geschichte hat uns wieder.

 

Bild
Monsù, L' incendie du temple
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