Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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Quelle:
Neue Zürcher Zeitung TOURISMUS Donnerstag, 16.09.1999 Nr. 215 72
Die «Grotte di Catullo» |
Auf (umstrittenen) Spuren eines Dichters in Sirmione am Gardasee |
Steht man während der Saison in der Via Vittorio Emanuele im Fussgängerstau und kann minutenlang keinen Fuss vor den andern setzen, so ist dies wohl am wenigsten Catullos Schuld. Sirmione, der Ort, zieht magisch an. Wie ein dünner Faden streckt es sich vom Südende vier Kilometer nordwärts ins Wasser des Gardasees, sich verbreiternd am Ende. Das Nadelöhr ist die Brücke, hinter der sich die bekannte Kulisse erhebt, die Wasserburg Rocca Scaliger, die Skaliger Feste. Ein Anblick, der trotz Vertrautheit immer wieder zu erstaunen vermag in seiner Wucht der Mauern und der Türme mit den Zinnenzähnen.
Sirmione ist intim, pittoresk, verführerisch, pulsierend, die Gassen gesäumt von Boutiquen und Beizchen, Gelaterien und Galerien. Selbst die sonst stille Oase des Parks auf der Anhöhe Cortine wird von Besuchern fürs Picknick belagert. Man sollte Sirmione ausserhalb der Saison besuchen, wenn die Schwärme etwas weniger dicht sich drängen, das einheimische Idiom der nordischen Zunge noch standhält, man noch freie Stühle findet vor den Pizzerias, die 84 Hotels, davon nicht weniger als neun der Vier- und Fünfstern-Klasse, nicht voll belegt sind. Und man sollte mit dem Schiff von Norden her ankommen, die Ostseite der Inselspitze sich aus dem leichten Dunst schälen sehen, besetzt mit den geheimnisvoll anmutenden Ruinen der Grotte di Catullo, jenem Dichter der Antike zugeschrieben, den Kenner in einem Atemzug mit Ovid, Virgil nennen, ihn diesen oft noch voranstellend. Nach Hausfronten zwischen Stumpengassen legen wir an der weiten Hafenmole an. Und kaum ist man an Land, ist er erneut präsent: Zur Linken steht auf einem Sockel sein Haupt, die Inschrift «Gaius Valerius Catullus», die Daten 87 AC - 54 AC.
S. Pietro und Lesbias
Sperling
Durchs städtische Dorf lässt man sich treiben. Das Auge hat derweil Musse, die Fülle aufzunehmen an zur Schau Gestelltem, an Flanierenden wie den Auslagen, Souvenirs, Luxus und Banales, Mädchen-Masken mit Blüten im Haar aus Terrakotta, Porzellan, lieblich, mit halbem Lächeln. Man könnte sie, Catullo im Sinn, mit wenig Phantasie seiner Lesbia zuordnen, verstrahlten sie nicht zuviel Unschuld.
Man weicht vielleicht aus in die obere Via Piana, bis die Strassen sich wieder treffen, wir die zur Rechten wählen. Touristen besteigen die offenen Wagen der kleinen Bähnchen, die beinah pausenlos ankommen aus der Anhöhe, sich füllen, wieder hochfahren den zweiten Hügel, den Mavino, vorbei an Villen, die sich westwärts mehren, unter sich die schönsten Flecken der Halbinselspitze aufteilen, Invasoren, die die Schönheit gepachtet haben. Wenn auch nicht als erste: Schlachten wurden hier geschlagen, Claudius gegen Goten, ein Blutbad verursachend, das Hunnengemetzel später. Es kamen die Langobarden, Kunimond, das von Königin Ansa gegründete Frauenkloster, die Skaliger, von denen die Burg den Namen trägt, die Visconti, Venedig, Napoleon auch, die Grotte di Catullo zu besuchen. Österreich folgte; dessen erster Raddampfer pflügte den Gardasee. Nahebei, auf den Hügeln von S. Martino und Solferino, folgte jene denkwürdige Schlacht. Heute sind es Touristen, die Sirmione besetzen, für Stunden oder Wochen.
Bukolisch wird das Gelände hügelwärts. Die Sonne ist durchgebrochen, die Wärme wird intensiv. Zur Rechten neigen sich dem Steilufer zu Olivenhaine. Etwas weiter hoch zweigt hangwärts ein Weg ab; man sollte sich Zeit nehmen für den kleinen Umweg: Auf der Hügelkrete erhebt sich versteckt, verträumt in ihrer Stille, die kleine Kirche «S. Pietro in Mavino», eine der sehenswertesten am ganzen See, umgeben von knorrigen Ölbäumen. Der heutige Bau stammt vom 11. und 14. Jahrhundert; im Halbdunkel des Innern tragen die Wände Fresken von Romanik bis Gotik, eine Majestas Domini, eine Kreuzigung, Heilige. Leicht zu übersehen, kündet dann vor dem Rundplatz auf dem Hügel ein Relief den Dichter an: Unter einem Baum hingestreckt, hinter sich wohl sein Palast, blickt Catullo einer Taube nach - oder ist es der Lieblingsspatz von Lesbia, dem er Cantos, viele Zeilen gewidmet hat: «Sperling, du meines Mädchens Liebling / wie gern spielt sie mit dir, birgt dich am Busen . . . / wenns der strahlenden, heissersehnten Liebsten / mein beliebt . . . / Könnt auch ich . . . mit dir spielen / und den traurigen Harm des Herzens lindern.» Glück und Leid künden Catullos Verse; später hält er gar gereimte Totenklage über den Vogel.
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An der Endstation der Bähnchen vor dem Eingang trennen sich einige der Geister; der Eintritt scheint ihnen zu teuer für den Anblick einiger Trümmer. Weit über die Buckelzunge der Halbinsel dehnt sich die Anlage aus auf dem nach Norden abfallenden Gelände hoch über dem See. Die Wege sind gesäumt von dichten Rosmarinhecken, dahinter wachsen Oliven. Geradeaus reckt sich ein gewaltiger Turmstummel hoch, verbunden mit Gemäuer, die in die mächtigen Ruinen hochführen.
Sirmio, deines Herrn freu
dich
Nach Grabungen von 1856 und 1941 bis 1959 verwies man die Entstehung der Bauten auf das vierte Jahrhundert n. Chr. Doch heute, nach erneuten Untersuchungen, neigt man eher wieder dazu, sie dem Zeitraum der Jahrtausendwende zuzuordnen. Der Einwand, es falle schwer, die Potenz dieser Anlage mit dem privaten Besitz eines Dichters in Verbindung zu bringen, hält nicht unbedingt stand. Dies müsste, so sie mit Catullo in Zusammenhang gebracht wird, der Landsitz von dessen Vater gewesen sein; dieser besass nachgewiesenermassen ein grosses Gut in Sirmione. Die Familie stammte aus Veroneser Patriziergeschlecht; dort, in dessen Stadthaus, war einer unter des Vaters Freunden, Caesar, oft zu Gast. Auch die Lebensdaten Catullos variieren; heute setzt man seine Geburt auf das Jahr 84 v. Chr. an. Doch wie die «Grotte» wissenschaftlich auch interpretiert werden - man mag die Gemäuer mit Catullo identifizieren, auf sich einwirken lassen. Immerhin, vom Dichter selbst ist ein Ansitz in Sirmione überliefert. Im Canto «Glück der Heimkehr» schwärmt er: «Mein Sirmio, Augenstern von all den Halbinseln / und Inseln, über die in klaren Landseen, / im weiten Meer Neptun als beider Herr waltet: / Wie frohgemut, wie gern erblick ich dich wieder! / . . . von ferner Fahrt zum eigenen Herd zurückkehren / und im gewohnten, heissersehnten Bett ausruhn . . . Ich grüsse dich, schönes Sirmio! Deines Herrn freu dich, . . . und was im Haus an Lachegeistern lebt, lächle!»
Man ist, auf Catullos Spuren, immerhin in guter Gesellschaft, wenn man etwa Mirabella Roberti, der streitbaren Professorin, in ihrem Werk über die «Grotte» folgt, die über die immense Anlage von 167 mal 105 Metern nebst zwei Vorbauten von je über 40 Metern schreibt: «Die Epoche ist die gleiche, und wir haben die Tatsache, dass Catullo sich (im Canto) als ÐBesitzerð des Ortes bezeichnete, und jener Platz ist der würdigste auf der ganzen Halbinsel.» Autor Attilio Mazza rät in seinem Sirmione-Führer, der Besucher solle sich beim Anblick dieses Zaubers von Natur und Kultur «vom eigenen Herzen und der eigenen Phantasie führen lassen». Tun wir es, durchschlendernd den verwirrenden Irrgarten, von Menschenhand geschaffen, wohl Teile Jahrhunderte darnach zugefügt, monströs anmutend.
Catullos Liebe, Lesbias
Niedergang
Vom gewaltigen Pfeiler zu Anfang kommt man hoch zum Lungo Corridoio, an dessen Ende zum Triforo del Paradiso, der Dreibogenöffnung. Zur Linken weitet sich der einst grösste Raum, die Aula dei Giganti. Im hinteren Sektor zieht sich die Kryptonsäulenhalle hin; Bruchstücke von Kapitellen liegen verstreut am Boden.
Man könne sich hier, auf sonnendurchwärmtem Gestein oder im Schatten der Ölbäume, hinsetzen: Gäbe es einen idealeren Ort, sich der Verse Catullos zu erinnern, die packen im Gehalt der Höhen und Tiefen, die aus ihnen sprechen, lebendig, handfest zuweilen, direkt sich selbst offenlegend, wie vor ihm kaum ein Dichter Worte verwandte. Die berühmtesten Cantos aber sind jene über Clodia, von ihm Lesbia genannt. «Sein Mädchen» muss etwa zehn Jahre älter gewesen sein als er, wird als «sittenlos» bezeichnet von den Zeitgenossen, mit zahllosen Liebschaften, war dabei Gemahlin ihres Vetters, des Konsuls Metellus, dem man keine Lorbeeren flicht (Cicero: «Metellus ist . . . nur Staub, Luft, pure Einöde»). Von Clodias Schönheit, ihren grossen, feurigen Augen schwärmt man; später muss sie tief gesunken sein. Als Metellus stirbt, munkelt man von Gift; es gibt einen Prozess. Cicero, den man auch mit ihr in Verbindung bringt, hält die (noch überlieferte) Verteidigungsrede.
Da sind Catullos Verse, voller Entsetzen, Schmerz und Wut über seiner Lesbia Niedergang: «Taverne du, so geil wie ihr, die Saufbrüder . . .» (sehr Handfestes, Ordinäres folgt in diesem Canto). «Mein Mädchen, das von meiner Brust sich abkehrte, / geliebt so sehr, wie keines wird geliebt werden, / ja sie, um die ich grosse Kriege durchkämpfte: / sie hockt nun hier! Und ihr, die Ðfeinen Glückspilzeð, / ihr alle liebt sie! Doch, was wahrlich unwürdig: / ihr alle seid nur Wichte, Gassenmenschhurer!»
Alles aber überklingt wohl jener Canto, die Huldigungsode an die grosse Liebe, in der er die Worte findet: «. . . der gegenübersitzend nur immerfort dich / anblickt und hört dein / süsses Lachen. Wahrlich, um alle Sinne / bringt dies mich Unseligen. Wenn mein Blick nur / dir begegnet, Lesbia, gleich verstummt, ach / Lesbia, meine / Stimme, starr die Zunge, ergiesst sich lohend / Feuer in die Glieder, im Ohre klingts und dröhnts.»
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Wendet man sich schliesslich zurück durch die Catullschen Gärten, erinnert man sich der Widmung, die der nur dreissig Jahre alt gewordene Dichter seinen Versen voranstellte: «Drum sei dein, was in diesem Büchlein drinsteht / und was dran ist. O gib, Schutzherrin Muse, / dass es länger als ein Jahrhundert daure!» Seine Stimme hat 2000 Jahre überdauert.
Martin Heumos |
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