Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

Logo

Klassische Sprachen
Latein, Griechisch
KZU


Quelle:

NZZ, Ausgabe vom 13. November 1999 FEUILLETON Nr. 265  65

 

  

Martin Bodmers Bibliothek der Weltliteratur

Zum hundertsten Geburtstag des Sammlers und Mäzens

Oberhalb der Stadt Genf, ihrer Weinberge und ihres vielgepriesenen Sees liegt, in eine schöne Parklandschaft gebettet, Martin Bodmers «Bibliothek der Weltliteratur». Der Blick des Besuchers schweift vom Mont Salève bis hinüber zu den französischen Jurahöhen weit über den See, von Calvins St-Pierre-Kathedrale bis zu den imposanten Gebäuden der internationalen Organisationen. Zwei unterirdisch miteinander verbundene Gebäude im Stil eines klassizistischen Schlösschens hat Bodmer 1951 eingeweiht, um den Schätzen der Weltkultur einen würdigen Rahmen, ein passendes Ambiente zu verschaffen. Betritt der Besucher das Haus, so wird seine Aufmerksamkeit rasch von der grandiosen Aussenwelt auf eine ästhetisch ebenso perfekte Welt des Geistes gelenkt. Im musealen Bereich sind Zimelien der Bibliothek ausgestellt, ausgewählt aus einem Katalog mit den Nachweisen von über 150 000 Drucken, Hunderten von mittelalterlichen und neueren Handschriften, erlesenen Wiegendrucken, Tausenden wertvollster Autographen, Zeichnungen und Kunstwerke.

Erklärtes Ziel des Sammlers war es, die wichtigsten Werke des Abendlandes, aber auch der gesamten Welt in Erstausgaben und Handschriften zu vereinigen, um ein Pantheon menschlichen Geistes aller Zeiten zu schaffen. Das Hauptaugenmerk galt der Literatur; Theologie und Naturwissenschaften, Geschichte, Philosophie und Musik sind nicht minder exemplarisch vertreten. Ein unbestechliches Gespür für Qualität zeichnete den Sammler Bodmer zeitlebens aus. Wenn er fünf Schwerpunkte seiner Sammlung bezeichnete, so ist jeder von ihnen ein Höhepunkt abendländischer Kulturgeschichte: die Bibel, Homer, Dante, Shakespeare, Goethe.

Beschränkung auf Wesentliches, auf das Beste galt Bodmer als Richtlinie des Sammelns. Die Definition des Goetheschen Begriffs von Weltliteratur, von Kultur, von Geist im allgemeinen hat ihn bis zuletzt beschäftigt. «Chorus mysticus» nennt er sein geistiges Testament, eine unveröffentlichte Darstellung der geistigen Werte und Mächte, die menschliche Kultur und Geschichte von Anfang an geprägt und bestimmt haben. Wenige Sammler haben Ähnliches unternommen. Bodmers Leistung kann wohl am ehesten mit denjenigen eines Pierpont Morgan oder eines Chester Beatty verglichen werden, deren Sammlungen in New York bzw. Dublin grosse Anziehungskraft auf die Besucher ausüben.

 

Bodmers Leben

Geboren wurde Martin Bodmer am 13. November 1899 in Zürich; in der elterlichen Villa des Freudenbergs lebte er bis zum Kriegsbeginn im Jahre 1939. Bereits 1916 hatte er den Vater verloren und ein beträchtliches Erbe angetreten. Die schönen Altstadthäuser an der Bärengasse, in denen das heutige Museum für Wohnkultur des 18. Jahrhunderts untergebracht ist, gehörten seinen Grosseltern, dann seinem älteren Bruder Hans Conrad Bodmer, dem grossen Beethoven- Sammler, dem Freund und Mäzen Hermann Hesses. Martin Bodmer hatte in seiner Vaterstadt das Gymnasium besucht, dann einige Semester Germanistik und Philosophie studiert. Eduard Korrodi war sein Lehrer, dann sein lebenslänglicher literarischer Mentor; zahlreiche Briefe des langjährigen Feuilleton-Chefs der «Neuen Zürcher Zeitung» haben sich in Cologny erhalten.

Korrodi war es auch, der den jungen Bodmer 1921 zur Gründung des Gottfried-Keller-Preises inspirierte. Zu den Trägern dieses wichtigsten schweizerischen Literaturpreises zählen u. a. Ramuz, Carossa, Hesse, Inglin, Canetti, Erika Burkhard und soeben Peter Bichsel (1999). Korrodi ebnete Bodmer auch den Weg zu einer wissenschaftlichen Laufbahn: Im angesehenen Haessel- Verlag in Leipzig erschien 1922 ein Band früher Balladen C. F. Meyers. Dass der umsichtige junge Herausgeber auch Besitzer der Autographen war, hat er verschwiegen. Meyer spielte in Bodmers Denken eine bedeutende Rolle; weitläufig war er mit ihm verwandt: Zur Hochzeit seiner Eltern hatte Meyer das Gedicht «Toast» verfasst. In ihm sah Bodmer einen wahlverwandten Vertreter des geistigen Zürich, einen Leitstern am literarischen Himmel über der Wirtschaftswelt seiner Vaterstadt.

Ein Forum für konservativ-zeitgenössische Literatur etablierte Bodmer mit der Gründung und Finanzierung der Zweimonatsschrift «Corona», die in schwieriger Zeit von 1930 bis 1943 in München erschien. Herbert Steiner, der für Rilke und George gearbeitet hatte, bestellte er zum Redaktor. Zu den ständigen Mitarbeitern der «Corona», von denen mancher gerngesehener Gast in Bodmers Freudenberg war, zählten beispielsweise Rudolf Borchardt, Selma Lagerlöf, Rudolf Alexander Schröder und Paul Valéry.

Bei Beginn des Zweiten Weltkriegs stellte sich Martin Bodmer, unter der Präsidentschaft von Max Huber, voll in den Dienst des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf. Hier lebte er fortan; 1951 verliess seine «Bibliothek der Weltliteratur» ihren angestammten Zürcher Sitz an der Bederstrasse, um in einem eigens für sie konzipierten Gebäude in Cologny untergebracht zu werden. Bodmers Freudenberg, von Valéry als ein irdisches Paradies gepriesen, musste dem Neubau der Kantonsschule weichen. Das Muraltengut, das Bodmer in den zwanziger Jahren erworben und vor dem Abriss bewahrt hatte, überliess er der Stadt. Seine Bibliothek bestimmte er, wenige Tage vor seinem Tod, als Stiftung an seine Genfer Wahlheimat.

Bild
Der Sammler und Mäzen Martin Bodmer. (Bild Jean Mohr)

Erste Kunde von Martin Bodmers Sammlung gab sein 1947 im Atlantis-Verlag des befreundeten Martin Hürlimann erschienenes Buch «Eine Bibliothek der Weltliteratur». Man wusste seither, dass sich in seinem Besitz sagenhafte Schätze befinden, darunter wichtige Sammlungen wie z. B. Teile des als Schweizerisches Literaturarchiv geplanten Archivs des Lesezirkels Hottingen, die legendäre Autographensammlung von Stefan Zweig aus Salzburg, später die amerikanische Rosenbach-Sammlung von Shakespeare-Erstausgaben, erlesene Stücke aus der Stolbergschen Schlossbibliothek Wernigerode, aus den Fürstlich Liechtensteinischen Sammlungen oder die Handbibliothek des Berliner Antiquars Martin Breslauer. Die Erwerbung von kapitalen Einzelstücken verlieh Bodmers Sammlung die Aura besonderer Kostbarkeit: die Urschrift der Märchen der Brüder Grimm, das einzige Exemplar der Gutenberg-Bibel in der Schweiz, die Autographen eines Streichquintetts von Mozart, die Prosafassung von Lessings «Nathan der Weise», von Stifters «Witiko», von Flauberts «Madame Bovary», von Thomas Manns «Lotte in Weimar», um nur ganz wenige zu nennen.

 

Bodmers spektakuläre Erwerbung

1956 gelang Bodmer eine sensationelle Erwerbung: eine neu aufgefundene antike Bibliothek aus ägyptischem Wüstensand, im Umfang von über zweitausend Textseiten. An Bedeutung für unsere Kenntnis der Bibel wie der antiken Literatur ist dieser Fund nur denjenigen von Qumran (heute in Jerusalem) und von Nag Hammadi (heute in Kairo) vergleichbar. Man kann annehmen, dass die heute in Cologny aufbewahrte Sammlung im 3. und 4. nachchristlichen Jahrhundert von einem ägyptischen frühchristlichen Bücherfreund aufgebaut worden ist oder dass es sich um die Texte eines Skriptoriums handelte, aus dem man Abschriften bestellen konnte. Bücher aus dem Alten wie dem Neuen Testament sind dabei, aber auch antike und frühchristliche Schriften fehlen nicht. Am spektakulärsten sind drei Komödien des Menander, von dem - ausser den Bodmer-Papyri (28KB) - keine weiteren Werke überliefert sind, wiewohl er schon lange als einer der fruchtbarsten Autoren der Antike gegolten hatte. Von nicht minderer Bedeutung ist das vollständig erhaltene älteste Manuskript des Johannes-Evangeliums aus dem Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. Die reich vertretenen koptischen Papyri zählen zu den wichtigsten Textzeugen der Volkssprache Ägyptens aus römischer Zeit; sie sind keineswegs nur für Philologen von Interesse.

In Bodmers Privatverlag erschienen in der Folge Editionen seiner Papyri in Einzelbänden. Die meisten von ihnen sind seither vergriffen; vielen fehlen die Abbildungen der originalen Tafeln. Zu Bodmers 100. Geburtstag legt soeben der Verlag K. G. Saur, München, einen Reprint sämtlicher Bodmer-Papyri in zehn Bänden vor, ergänzt um die Abbildungen sämtlicher originaler Seiten. Es folgen noch zwei Bände von bisher ungedruckten Fragmenten und Korrigenda, herausgegeben von dem Genfer Philologen Rodolphe Kasser.

 

Bodmers Vermächtnis heute

Es war Bodmers ausgesprochener Wunsch, dass seine Sammlung nicht aufgelöst werde, sondern allgemein zugänglich bleibe. Während eines Vierteljahrhunderts nach seinem Tod ist, unter dem Stiftungsratspräsidenten Daniel Bodmer (1928-1995), seinem ältesten Sohn, und Hans Braun, dem Bibliotheksleiter, Martin Bodmers Wunsch in pietätvoller Weise erfüllt worden. Zwei Gründe veranlassten neulich den Stiftungsrat (dem heute zwei weitere Söhne Bodmers, Vertreter der Regierung und der Genfer Universität angehören) zum Handeln: massive Kürzungen der jährlichen Unterhaltszahlungen durch den Kanton sowie dringend erforderliche konservatorische Massnahmen zum Schutz der unersetzlichen Kulturgüter. Der Verkauf einer Zeichnung Michelangelos zu einem spektakulären Preis ermöglichte der Stiftung kürzlich, die Planung eines Neubaus und eines völlig neuen musealen Konzepts in Angriff zu nehmen. Mit Mario Botta konnte ein Architekt gewonnen werden, der die alten Gebäude erhält, neue Akzente setzt und den Erfordernissen moderner Museologie gerecht wird. Überdies soll auch, dank einer neuen Anschaffungspolitik, der Bibliothek ermöglicht werden, ihre Bestände zu ergänzen und den Ansprüchen einer modernen Forschungspolitik zu genügen. - Den hundertsten Geburtstag Martin Bodmers feiert die von ihm hinterlassene Stiftung mit der Planung und der Realisierung von Vorhaben, die einen günstigen Ausblick auf die Zukunft der Bibliothek gestatten und somit die Krönung des Lebenswerks des grossen Zürchers im neuen Jahrtausend garantieren.

Martin Bircher

 

 


Zurück zur Seite "Varia 1999"
Zurück zur Seite "Varia"