Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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Text-Quelle:

NZZ, FEUILLETON, Donnerstag, 22.04.1999 Nr. 92  65

 

Die Schiffe von Pisa

Ein bedeutender archäologischer Fund

Beim Bau einer Kommando- und Kontrollzentrale der «Ferrovie dello Stato» auf dem Gelände des Bahnhofs Pisa S. Rossore sind - wie hier schon kurz gemeldet - seit Ende des letzten Jahrs bisher zehn Schiffe aus römischer Zeit zum Vorschein gekommen. Die Archäologen hoffen auf weitere Funde; die Bahnverwaltung wünscht sich ein baldiges Ende der Kampagne.

Auch eine Palisade, die als Wellenbrecher gedient haben muss, ist entdeckt worden; sie gibt einen Anhaltspunkt für die Lokalisierung des antiken Hafens, der spätestens im 5. Jahrhundert v. Chr., vielleicht unter etruskischer Herrschaft, am damaligen Zusammenfluss von Arno und Serchio entstanden ist. Der römischen Republik, in deren Bürgerrecht die Stadt im Jahr 89 v. Chr. aufgenommen wurde, hat er als Stützpunkt für den See-Kleinkrieg gegen nördliche Völkerschaften gedient; vielleicht ist deshalb in ersten Meldungen mitgeteilt worden, man grabe in Pisa eine Kriegsflotte aus. Der vorläufige Befund deutet aber fast nur auf Lastschiffe.

Erstaunlich ist der Erhaltungszustand des Holzwerks, sowohl der Palisade wie der Schiffsrümpfe; besser als früher auf und über dem Wasser hat es sich später im Schlamm konserviert. Jetzt, da der Sauerstoff wieder zudringt, muss man sich mit der Sicherung beeilen. Im Lauf des Sommers will man für die Schiffe ein Laboratorium finden; man rechnet dann mit einer Behandlung von anderthalb bis zwei Jahren, in denen sie aber dem Publikum gezeigt werden sollen. «Aperto per restauro» - die ungewöhnliche Formulierung ist am Dienstag, als die Bau- und Grabungsstelle bei strömendem Regen der Presse vorgeführt wurde, zur Welt gekommen.

Wie alt sind die Schiffe? Das scheint, nach den provisorischen Auskünften der Fachleute zu schliessen, eine «gute Frage» zu sein. Eine goldene Fibel, die gerade am Montag aufgetaucht ist, soll aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. stammen; Münzen des 2. Jahrhunderts n. Chr. kann man neben anderen Kleinfunden in einem improvisierten Ausstellungsraum selber sehen. So bildet ein halbes Jahrtausend den Rahmen, in dem man die Chronologie der «Flotte» wird aufbauen müssen, zusammengewürfelt, wie sie ist, aus Schiffen verschiedenen Typs und Formats: eines ist dreissig, ein anderes nur zehn Meter lang, eines sieht nach Flussschiffahrt aus, eines nach Küstenwache . . .

Und noch ganz in den Anfängen steckt die Auswertung der Bestandteile und der teilweise überreichen Frachten: Amphoren samt Inhalt, Glas und Keramik, wenige Luxusobjekte und viele Münzen, eine Wachstafel mit Griffel . . . Was sich jetzt schon abzeichnet, ist die vielfältige Herkunft der Gegenstände, der Waren: ein mediterranes Kompendium. So wird bei diesem Fund auch für die Wirtschaftsgeschichte einiges abfallen. Und der Historiker steht vor der Frage, wie man sich das vorzustellen hat: dass Schiffe einfach liegen bleiben, leer die einen, beladen die anderen, dann deckt der Schlamm sie zu, und die Jahrhunderte ziehen darüber hinweg - ein rätselhafter Vorgang.

Hanno Helbling

 

 


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