Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)

 

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FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ausgabe vom 11. Mai 1999 (Feuilleton)

 

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Trümmer Träume und Videos:
Auf Bildschirmen verewigt versinkt das Weltkulturerbe Pompeji

 

POMPEJI; im Mai

Pompejis Lebenselexier ist der Kitsch. Das war 1839 so, als Bulwer-Lyttons gelehrter Herz-Schmerz-Katastrophen-Roman der ausgegrabenen Stadt mehr Bewunderer und Besucher sicherte als alle vorangegangenen wissenschaftlichen Abhandlungen. Das blieb so, als 1866 Paul Alfred de Curzon sein elegisches Riesengemälde vorstellte, auf dem in der grandiosen Ruine der «Casa del Fauno» die Geister der Pompejaner in erhaben drapierten schwarzen Togen unter einem samtigen Nachthimmel, den nur eine kleine Feuersäule des Vesuvs erleuchtet, das Los ihrer einstigen Heimatstadt beweinen. Und das ist noch heute so, wo eine der vielen Videokassetten, die man in Pompeji kaufen kann, mit einem nächtlichen Totentanz endet, den eine kalkweiss geschminkte, etwas ungelenke Balletttruppe im Flackerlicht einiger Fackeln vor dem Wandelgang der „Praedia der Julia Felix" zelebriert.

BildKitsch und Barbarei liegen dicht beieinander: Schon zu Bulwer-Lyttons Zeiten standen Besucher ehrfürchtig vor antiken Fresken, um sich in unbeobachteten Momenten mit eingekratzten Vornamen und Daten auf ihnen zu verewigen. Damals bestaunte man Skelette, die von gemütskundigen Ausgräbern zu wirkungsvollen Rührszenen arrangiert und von geschäftstüchtigen Kupferstechern in Bildserien festgehalten worden waren. Ab 1865, als Gipsausgüsse der Opfer (23KB) gelangen, kritzelten Touristen ihre Namen in die Totenleibe, als handelte es sich um das Gipsbein eines Skiläufers.

BildDie meisten der Abgüsse (63KB) sind heute in Magazinen. Aber an den zahllosen Souvenirständen kann man Postkarten mit gestochen scharfen Fotografien der verrenkten Körper kaufen. Favoritin ist momentan die Aufnahme einer jungen Frau, die vor einigen Jahren in Oplontis, einem Villenvorort Pompejis gefunden und in Kunstharz ausgegossen wurde, so dass unter dem schmerzverzerrten Gesicht der grinsende Totenschädel aufscheint. Als Attraktion von Wanderausstellungen hat die Tote schon ganz Europa bereist.

So gross wie die Sensations- und die Zerstörungslust ist die Raffgier des organisierten Massentourismus. Er ist die alles verheerende Nachhut des organisierten Kunstdiebstahls: Dreimal ist in den letzten vierzig Jahren Pompejis (seit zwanzig Jahren wegen Umbau geschlossenes) Antiquarium beraubt worden, aber täglich stecken Besucher lose Mosaiksteine, Stockbrocken oder Scherben ein. Selbst die Kopien der Kopien von Statuen wurden gestohlen - so lange, bis nur noch die dauernd bewachten Hauptbauten einige wenige Repliken bewahrten; kläglicher Abglanz der Fülle, die Pompeji noch in den fünfziger Jahren bot.

Die Stadt war zur Ruine einer Ruine geworden. Das ändert sich seit etwa fünf Jahren: Halb beglückt und halb bestürzt kann man beobachten, wie der Zwang, dem stetig wachsenden Touristenstrom Sehenswertes für die stetig steigenden Eintrittspreise zu bieten, Restaurierungen hervorbringt: Die Villa der Julia Felix, 1755 entdeckt, geplündert und zugeschüttet, in den fünfziger Jahren wieder ausgegraben und restauriert, erlebt gerade ihre dritte Wiederauferstehung. Die grazilen Marmorpilaster ihres Wandelgangs sind schon saniert, jetzt wird an den eleganten Privatthermen und den morschen Resten des kleinen Isisheiligtums im weitläufigen Park gearbeitet.

BildDie «Casa del Menandro», Familienbesitz, wenn nicht gar Elternhaus der Poppaea, die an der Seite Neros zur Kaiserin aufgestiegen war, ist nach langen Jahren der Einsturzgefahr wieder jene gut erhaltene Stadtresidenz geworden, die sie bei ihrer Entdeckung war. Die Fassaden längs der «Via dell'Abbondanza», einst Pompejis Hauptstrasse, sind grösstenteils saniert. Und die raumverschwenderisch angelegten Hangvillen mit Meerblick (29KB), im frühen neunzehnten Jahrhundert das Entzücken der Ausgräber (eine von ihnen liess sich der bayrische König Ludwig I. als «Pompejanum» hoch über den Main bei Aschaffenburg nachbauen) sind mit all ihren kühnen Terrassen, Gewölben und Treppenhäusern wieder gesichert. Frei stehen sie auf und über der westlichen Stadtmauer, und wäre nicht das ordinäre Dickicht von Betonkästen der Neuzeit, könnte man von dort jenen Blick auf den Golf geniessen, der schon die Pompejaner und ihre römischen Gäste bannte.

Sogar die sogenannte Villa des Diomedes vor dem «Herculaner Tor», jedem Bulwer-Lytton-Leser bekannt als Prunkbau eines Neureichen, ist aus meterhohem Gestrüpp und Müll wiederaufgetaucht. Von der Pergola eines hochgelegenen neuen Erfrischungsstands schaut man, vorbei an der «Gräberstrasse» mit restaurierten Grabaltären aus strahlend weissem Marmor, auf ihren Garten mit seiner umlaufenden noblen Pfeilerreihe und zwei meerwärts gewandten Belvederes. Das ist die einzige Möglichkeit, die Villa zu betrachten. Denn sie ist geschlossen wie alle restaurierten Bauten - und die meisten anderen pompejanischen Häuser auch. Nur an frühen Vormittagen und gegen Abend, wenn alles menschenleer ist, öffnen manchmal Aufseher für hohe Trinkgelder ein Gitter. So gelangt Bildman vielleicht auch in die Stadtvillen «Casa del Criptoportico» (17KB) und «Casa del Labirinto». Erstere ist in einem erbärmlichen Zustand, der namensgebende Gewölbegang mit Blick in den Peristylgarten zeigt nur noch klägliche Reste seiner reichen Stuckreliefs, die ausgemergelten Stützbögen der hohen Veranden und die geneigten Wände des Obergeschosses stehen wie ein Wunder wider die Schwerkraft. Die Casa del Labirinto dagegen ist unrettbar verloren. Im März 1998 zerstörte die einstürzende Decke ihren «korinthischen oecus», einen Salon mit zehn Säulen und wandhohen kostbaren Fresken. Das Theseus-Mosaik, nach dem die Villa benannt ist, wurde in Mitleidenschaft gezogen. Man scheint das Haus abgeschrieben zu haben.

Wettschlendern zwischen Hase und Igel, Sisyphus, der gemächlich-gemütlich seinen Felsbrocken stemmt: Einem langwierig restaurierten Haus stehen Dutzende einsturzgefährdete gegenüber. 1998 mauerten zwei Arbeiter in geduldiger Kleinarbeit die morschen Wände des winzigen Tempels des Zeus-Meilichios wieder auf, zwei Schritt von der hellenistischen klassisch schönen Portikus des «Foro triangolare», die seit Jahren schon, und auch im Frühling 1999, mit erbärmlich dünnen Hölzern notgestützt ist. Seitlich vom dreieckigen Forum, auf dem sich Pompejis ältester Tempel dem Herkules geweiht, und das symbolische Grab des Stadtgründers befinden, erstreckt sich ein völlig überwuchertes, seit Jahrzehnten unzugängliches Stadtviertel. Es säumt den Steilhang in Richtung Meer. In alten Grabungsberichten ist die Rede von Villen mit hängenden Gärten und Pavillons, die in mehreren Stockwerken bis zur Küste hinunter abgetreppt waren. Niemand kümmert sich, denn augenblicklich konzentriert sich das Interesse auf die Wallanlagen und ein eher ländliches Viertel der Stadt. Jede Archäologengeneration findet und erfindet Pompeji neu - und überlässt das zuvor Gefundene sich selbst.

Seit 1997 verfügt die Soprintendenza frei über die jährlichen zwanzig Millionen Mark Eintrittsgelder, die ihrerseits nur ein Viertel des Etats ausmachen, dessen übriger Teil der Staat aufbringt. Der Soprintendent Pietro Guzzo verweist stolz darauf, dass die Mittel zur Restaurierung sich vervierfacht hätten und publikumsfreundliche Attraktionen - momentan ist es ein bunter Fesselballon, der über der Mitte Pompejis schwebt und zur Traumreise lädt - die Anziehungskraft der antiken Stätte steigern. Doch liegen Welten zwischen dem Wunschbild eines geretteten Pompeji, das 1997 die Deklaration zum Weltkulturerbe heraufbeschwor, und dem Klein-Klein, mit dem Archäologen beispielsweise in einem neuen Grabungsfeld einen Garten mit Pinzette und Pinsel auf verkohlte Kleinwurzeln und Pollen untersuchen. Die Pflanzenanalysen haben ergeben, dass dort Obst und Blumen gezüchtet wurden, und eine kleine Manufaktur für Parfüms und Salben angeschlossen war.

Das weiss man nun. Aber man weiss nicht mehr, wohin die prächtigen Kapitelle gehören, die vor langer Zeit wegen des malerischen Effekts an die Gräberstrasse am Herculaner Tor geschafft worden, wieviele der kaum zählbaren Funde noch in Magazinen lagern und wieviele längst in den Regalen illegaler Kunsthändler. Und nur Spezialisten wissen, dass die monumentalen Rundbögen an der hohen Südflanke des Stadtfelsens zu den «Sarno-Thermen» gehören. In alten Fotobänden sieht man hohe Gewölbe, elegante Treppenfluchten und Wandgemälde. Ein unbekanntes Pompeji scheint darin auf. Es gleicht mit seinen wagehalsigen Konstruktionen den Bauwundern, die viele Generationen später an der benachbarten Steilküste Amalfis und Sorrents aufgetürmt wurden.

Ein ähnliches Schattendasein führen die sogenannten Vorstadtthermen an der «Porta Marina», dem ehemaligen Meerestor und heutigen Haupteingang Pompejis. Für alle sichtbar stehen sie dort, ihre Stuckgewölbe, Mosaike und Fresken sind seit 1987 bestens restauriert, gesichert und verriegelt. Kein Besucher weiss, was ihm entgeht. «Pompeji wird immer virtueller» schrieb am 4. Dezember 1998 der Archäologe Volker Strocka in dieser Zeitung. Während die Ruinen verfallen, werden die Computerprogramme aufgefüllt mit den Reproduktionen und Rekonstruktionen verlorener oder akut gefährdeter Bauten, Kunstwerke und Gebrauchsgegenstände. Was die Mikrochips der Soprintendenza speichern, hat seinen Weg in die Massenattraktionen gefunden: Zwar sind fast sämtliche Video-Installationen, die man vor einiger Zeit neben den unzugänglichen Häusern aufgestellt hat, längst defekt. Aber fliegende Händler verkaufen stapelweise Videokassetten, auf denen ein strahlend schönes Pompeji zu erleben ist, am strahlendsten in jenen Streifen, die mit Computersimulationen eine Zeitreise bieten. Aus einer Sänfte schaut man dann in arkadische Szenerien, so edel und illusionär, wie sie in den Idealveduten schweben, die Pompejis Oberschicht sich auf die Wände ihrer Paläste malen liess.

Inzwischen borgt die virtuelle Stadt der wirklichen von ihrem Glanz: In der «Casa del Fauno» liegt eine massstabstreue Fotokopie des Alexandermosaiks an der Stelle, von wo man vor zweihundert Jahren das Original nach Neapel transportiert hat. Der gut gemeinte, aber billig gemachte Ersatz löst sich schon wieder zu Pappe auf.

Ausgleich für all diese deprimierenden Ansichten bietet seit kurzem ein neu angelegter Wanderweg. Er folgt den Stadtmauern Pompejis, die man - ein vor vierzig Jahren geplantes Projekt nun endlich beendend - auf (fast) ganzer Länge freigelegt hat. Der Weg, gesäumt von uralten Pinien und Zypressen, verläuft auf dem heutigen Bodenniveau, sechs bis acht Meter über dem der Antike. Man schaut hinab auf die Wehranlagen und Türme, überblickt die Strassen und kann an einigen Stellen sogar hinaus auf den Golf und bis nach Capri schauen.

Noch haben wenige den neuen Weg für sich entdeckt. Abends, während dieses selbst für Süditalien aussergewöhnlich sonnigen Frühlings, kehrt dort alles wieder, was Wissenschaftler und Schriftsteller je über Pompeji geschrieben haben: die Handels- und Hafenstadt, in der Römer und Samniten, Ägypter, Griechen, Juden und Etrusker lebten, wo zwei wunderbar proportionierte uralte griechische Tempel und viele schaurig überladene römische standen, Theater, Villen, Manufakturen und Hütten. Und natürlich schleichen sich Bulwers blindes Sklavenmädchen Nydia, der skrupellose Arbaces und die törichte schöne Julia in die Gedanken. Dann weiss man für einen Moment, dass der Roman und auch de Curzons Trauer-Gemälde im Kitsch die Wahrheit haben und auf ihre Art tun, was alle Archäologen seit der Wiederentdeckung Pompejis betreiben: die Stadt als stillgestellte Zeit zu bewahren. Doch zu lange schon hat sie nachlässige oder kurzsichtige Hüter.

DIETER BARTETZKO



Bild

Hans Hofman, Pompeii
(17 KB)

  

 


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