Realien: Materialien von Anton Hafner (KZU Bülach)
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Text-Quelle:
NZZ, Ausgabe vom 16. Januar 1999
Pompeji: 250 Jahre danach
Von der Herauszögerung der «Letzten Tage von Pompeji»
Am 30. März 1748 begann die Aufdeckung der weltweit berühmtesten archäologischen Stätte, die jedes Jahr von Millionen besucht (besser: heimgesucht) wird. Die Rekordzahl ist verständlich: Nirgends sonst ist die Illusion stärker, sich um zweitausend Jahre in eine vergangene Welt zurückversetzt zu finden. Rekordverdächtig ist in Pompeji allerdings auch das Ausmass der Probleme, mit denen sich die zuständige Antikenverwaltung heute konfrontiert sieht. Darüber zu berichten ist sinnvoll, weil Pompeji seither, im Guten und im Schlechten, als Prototyp der archäologischen Ausgrabung gilt.
Für die meisten Besucher bedeutet Pompeji, wie für die Italienreisenden des 18. und 19. Jahrhunderts, die hautnah erlebte antike Welt. Erst nach und nach ist durch den Vergleich mit anderen Orten klargeworden, dass die im August des Jahres 79 nach Christus verschüttete Stadt zwar typisch römische Züge aufweist, in manchem aber ein Sonderfall war. Denn sie lag in einer landschaftlich und landwirtschaftlich begünstigten Gegend und bot daher ihren Einwohnern bevorzugte Lebensbedingungen. Ein Vorzug war auch die relative Nähe zur Reichshauptstadt, die sie an deren Leben und Kultur unmittelbar teilhaben liess: Nicht jede kaiserzeitliche Siedlung ermöglichte ein so angenehmes Leben, nicht jedes römische Haus war so komfortabel ausgestattet.
Pompeji bietet also nur bedingt einen Spiegel des Lebens in der Antike. Dafür vermittelt es eine Vorstellung davon, was die Archäologen in 250 Jahren dazugelernt haben. Ohne Pompeji würden wir heute über den Städtebau, die Wohnkultur, die grosse und die kleine Kunst am Anfang unserer Ära viel weniger wissen und vermitteln können. An diesem Platz haben sämtliche Phasen und Methoden ihre Spuren hinterlassen, welche die Archäologie bis heute geprägt haben: die Schatzsuche, die Geschichte der Kunst, die kontextuelle Bodenforschung. Hier gründete Giuseppe Fiorelli 1866 die erste Archäologenschule, die allerdings die Wechselfälle der Zeitgeschichte nicht überdauerte.
Eine Ausgrabung als Zeitspiegel
Ein Spiegel ist Pompeji vorab für die seit dem 18. Jahrhundert dramatisch wechselnden politischen Verhältnisse in Italien geworden: Als Hauptattraktion des Bourbonen-Reichs bekam es die administrativen und finanziellen Probleme der Einigung zu spüren. Danach hat ihm die Misswirtschaft der Nachkriegsjahrzehnte stark zugesetzt: zu rasche Grabungsarbeit bei unzureichender Sicherung und exzessiver touristischer Ausbeutung. Auf die negativen Erfahrungen folgte die Einsicht, dass das Ziel heute nicht mehr der sensationelle Neufund sein kann, sondern die Erhaltung des Ausgegrabenen, damit «die letzten Tage von Pompeji» so lange wie möglich hinausgezögert werden: Die grössere Gefahr bilden nicht die Launen des Vulkans, sondern der gewaltige Besucherstrom.
Primär der Erhaltung dienen die anlässlich eines Kongresses in Neapel vorgestellten Forschungsprojekte, die auch dem nichtspezialisierten Besucher durch eine ausgezeichnete kleine Ausstellung in Pompeji selbst nahegebracht worden sind. Eine Anzahl schon früher begonnener Studien von Archäologen-Teams aus mehreren Ländern werden mit teilweise privatem Sponsoring koordiniert weiter- und vorgeführt. Es sollen sowohl die urbanistische Entwicklung wie die Vorphasen der Stadt geklärt und auch neue Möglichkeiten der Präsentation erprobt werden. Eine Hauptaufgabe bleibt die Bestandesaufnahme der früheren Funde: Im Vordergrund steht dabei die nun fast fertiggestellte wissenschaftliche Publikation sämtlicher Wandmalereien innerhalb ihres Dekorationssystems in der «Enciclopedia dell'Arte Antica».
Der Besuch von Pompeji bleibt ein eindrückliches Erlebnis. Dem Wildwuchs hässlicher Neubauten in der umgebenden Landschaft und der forcierten Ausbeutung durch den Massentourismus ist es zum Glück nicht gelungen, die Aura des Ortes ganz zu zerstören: Der Anblick des verhängnisvollen Berges ist von der Ausgrabung aus immer noch, wie vor zweitausend Jahren, überwältigend. Wer nachmittags und ausserhalb der Reisesaison die Ruinen erwandert, darf nach wie vor die melancholische Stille und den erholsamen Duft des schützenden Vegetationsringes erleben. Informationstafeln in zwei Sprachen verwandeln den Spaziergang in ein kulturelles Erlebnis. Im Vergleich mit früheren Besuchen erhält man heute viel weniger den Eindruck von Verwahrlosung und Verfall: Es ist jemand da, der zur Sache schaut.
Das Neapolitaner Nationalmuseum
Das Erlebnis Pompeji lässt sich heute in Neapel vertiefen. Zwar sind die Bau- und Restaurierungsequipen im ehrwürdigen archäologischen Museum noch präsent, nicht überall ist die Beschriftung abgeschlossen, und auch die Vasensammlung harrt der Neueröffnung. Immerhin sind die einmalige Gemmenkollektion und die Skulpturen nun zu sehen, welche im 18. Jahrhundert dem Farnese-König von Parma nach Neapel gefolgt waren: die Tyrannenmörder, der gigantische müde Herakles aus den Caracalla-Thermen, die Gruppe mit Dirke unter dem Stier. Vor allem sind im zweiten Stock zusammen mit dem Pompeji-Modell, neu restauriert und durch Informationstafeln erläutert, die Fresken aus den Vesuv-Städten wieder zugänglich, unter denen jene des Isis-Tempels von Pompeji besonders erwähnt seien.
Wer antike Plastik und Wandmalerei höchster Qualität erleben will, kommt auf der Durchreise auch in Rom voll auf seine Rechnung, wo das ehrgeizige, vor Jahren in Angriff genommene neue Ausstellungskonzept (NZZ vom 28. 8. 95) mit der Neueröffnung des Thermenmuseums im Palazzo Massimo beim Bahnhof Termini, der Sammlung Ludovisi im Palazzo Altemps bei der Piazza Navona, des neuen Palatin-Museums nun zum Tragen kommt. Die Skulpturensammlung des Palazzo dei Conservatori auf dem Kapitol ist provisorisch - und atemberaubend schön - im historischen Bau der Elektrozentrale Montemartini (Via Ostiense 106) ausgestellt. Fast durchwegs sind zweisprachige Beschriftungen da, und man erhält überall neue, handliche Kataloge. Zu hoffen bleibt jetzt nur, dass Italien den Pilgeransturm des Heiligen Jahres überlebt: Dann erst wird sich die bewundernswerte Anstrengung der Museumsleute gelohnt haben.
Cornelia Isler-Kerényi
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